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Automobilhersteller müssen ihre Produktion neu aufstellen

Automobilhersteller müssen ihre Produktion neu aufstellen

13. Juni 2018

In der Automobilindustrie lassen sich momentan vier zukunftsweisende Trends beobachten: neue Mobilitätskonzepte, autonomes Fahren, Digitalisierung und Elektromobilität. Bei Roland Berger werden sie unter dem Begriff MADE zusammengefasst. Sie haben direkten Einfluss auf den Bereich der Automobilproduktion. Hersteller müssen Produkte, Produktvarianten und Produktionskapazitäten schnell anpassen können. Das gilt sowohl für Verbrennungs- als auch für Elektromotoren und geht einher mit einer steigenden Teilevielfalt.

In einem Interview erklären die Roland Berger-Partner Michael W. Rüger und Rolf Janssen, wie sie den Transformationsdruck auf die Produktion beurteilen, welche Bereiche der Automobilindustrie besonders stark betroffen sind und wie Unternehmen jetzt handeln sollten, um auch in Zukunft profitabel zu bleiben.

Interview mit Rolf Janssen und Michael W. Rüger über anstehende Transformationen in der Automobilproduktion.
Rolf Janssen (links) und Michael W. Rüger (rechts) über die Auswirkungen neuer Antriebstechniken auf die Automobilproduktion.

Wie würden Sie den aktuellen Transformationsdruck in der Branche beschreiben? Liegt die Digitalisierung in der Automobilproduktion in der ferneren oder näheren Zukunft?

Rolf Janssen: Die Digitalisierung läuft ja bereits seit vielen Jahren und der Transformationsdruck ist längst in der Industrie angekommen. Bisher haben sich die Automobilhersteller allerdings mehr auf die Produktseite konzentriert; dabei besteht auch in der Produktion erheblicher Veränderungsbedarf, etwa bei der Vernetzung. Leider fehlt es hier noch an Konsequenz.

Woraus schließen Sie das?

Michael W. Rüger: Wir sehen in unserer täglichen Arbeit, wie schwer den Unternehmen die Transformation der Produktion fällt. Sie denken noch in der klassischen Aufteilung der Wertschöpfung und zögern daher bei der eigenen Neuausrichtung. Und das, obwohl die Produktion jetzt klare Weichenstellungen für die Zukunft braucht, denn die anstehende Transformation benötigt Zeit.

Wie lange wird der Übergang dauern?

Janssen: In unserem "Automotive Disruption Radar" haben wir die Auswirkungen von MADE und möglichen Transformationsszenarien bei Fahrzeugantrieben analysiert und kommen auf eine Übergangszeit von 15-20 Jahren. Diese Zeit sollte eigentlich ausreichen für einen Transformationsprozess ohne Hektik. Problematisch ist allerdings die Unsicherheit, wie die Entwicklung tatsächlich laufen wird, denn sie erfordert, dass die Unternehmen sich auf unterschiedliche Szenarien vorbereiten.

Wo ist denn der Druck höher? Bei den OEMs, bei den Zulieferern, oder kann man das nicht differenzieren?

Rüger: Das ist immer vom einzelnen Unternehmen abhängig. Einige sind schon sehr weit, haben verschiedene Elemente von Industrie 4.0 oder digitalisierte Geschäftsprozesse getestet und stellen jetzt ihre Produktionsstrukturen sukzessive um. Bespiele dafür gibt es sowohl bei den OEMs als auch bei den Zulieferern. Für die, die noch nichts gemacht haben, wird der Druck sicherlich steigen.

Kann man nach Produkt-Themenfeldern unterscheiden?

Janssen: Den größten Handlungsbedarf gibt es sicher im Bereich der Antriebstechnik. Bei der E-Mobilität diskutieren auch Politik und Öffentlichkeit mit und erhöhen damit den Druck. Aber auch andere Bereiche wie zum Beispiel Interieur-Hersteller stehen vor einem einschneidenden Wandel: Da geht es um neue Infotainment-Angebote oder die Umgestaltung des Innenraums vor dem Hintergrund des autonomen Fahrens, wo dann neue Packaging- und Leichtbaukonzepte gefordert sind.

Die Betrachtung geht also weg von einzelnen Komponenten hin zu einer neuen Ganzheitlichkeit?

Janssen: Viele beschäftigen sich nur mit Teilaspekten wie "Digitalisierung" oder "Lean Production". Doch Spitzenleistung in einzelnen Feldern reicht nicht. Denn es ändert sich nicht nur die Technologie, sondern die gesamte Wertschöpfung und die Art und Weise, wie sie erfolgt. Diese Transformation braucht auch Mitarbeiter, die sie tragen und mitgestalten. Deshalb müssen deren Fähigkeiten weiterentwickelt und neue Modelle der Zusammenarbeit ausprobiert werden.

Rüger: "Fähigkeiten der Mitarbeiter" ist ein wichtiges Stichwort. Die Aus- und Weiterbildung muss sich grundlegend verändern. Die Mitarbeiter brauchen neben fachlichen Kenntnissen ein ganzheitliches Verständnis für Produkt, Prozesse und Equipment, um aktiv am Verbesserungsprozess teilnehmen zu können. Gleichzeitig muss das Zusammenspiel zwischen den einzelnen Fachbereichen und mit Externen neu definiert und praktiziert werden.

Bedeuten diese Veränderungen auch, dass die Zeiten vorbei sind, in denen Zulieferer einzelne Komponenten herstellen und diese an Kunden liefern? Geht der Trend hin zum Systemlieferanten?

Rüger: Auch in einer technologisch anspruchsvolleren Produktionswelt werden weiterhin neben komplexen Systemen auch Komponenten von Lieferanten bezogen. Allerdings wird sich der Trend zu global agierenden Zulieferern verstärken, die komplexe Systeme mit kompletten Funktionalitäten entwickeln, herstellen und liefern. Das bedeutet für diese Systemlieferanten, dass ihre Bedeutung in der Wertschöpfungskette zunimmt, aber auch, dass sie deutlich mehr in Entwicklung und Produktion investieren müssen.

Spielen Unternehmen, die sich nicht mit den Wandel befassen, mit ihrer Zukunftsfähigkeit?

Janssen: Ja, eindeutig. Aber es gibt nicht viele Unternehmen, die das Thema nicht auf ihrer Agenda haben. Das Problem liegt in einer gewissen Unsicherheit, welche Aspekte tatsächlich relevant sind und wie man als Unternehmen Verbesserungen erreichen kann. Daraus entsteht eine zögerliche Haltung, die einerseits verständlich ist, andererseits gefährlich: Denn die Herausforderungen und die Geschwindigkeit des Wandels sind immens und irgendwann müssen sich die Unternehmen den Fakten stellen.

Warum tun sie sich schwer?

Janssen: Zum einen verlangen solche Veränderungen hohe Investitionen, bei gleichzeitig hohem Kostendruck. Das heißt, die Unternehmen müssen sehr sorgfältig überlegen, welche Lösung sie priorisieren. Zum anderen müssen sie mit dieser Lösung dann schnell in die Breite gehen, um damit die Kosten wieder einzuspielen.

Sie haben mehrfach das Thema Ganzheitlichkeit angesprochen. Können Sie uns erklären, was Sie unter Ganzeinheitlichkeit verstehen?

Janssen: Es geht um sechs Kriterien, die letztlich ineinander greifen müssen: Erstens Fertigungselastizität, zweitens ökologische Nachhaltigkeit, drittens wirtschaftliche Nachhaltigkeit, viertens verstärkte Kooperationen sowohl intern als auch extern, fünftens Digitalisierung, nicht nur in der Fertigung sondern auch in den Geschäftsprozessen, und sechstens die Kompetenzsicherung vor allem mit Blick auf die Zukunft.

Eines der kritischen Themen bei der Transformationsbereitschaft ist sicher, dass wir es aktuell mit einer wirtschaftlich sehr erfolgreichen Industrie zu tun haben. Und wenn es läuft, ist die Bereitschaft zum Wandel in der Regel nicht besonders ausgeprägt…

Rüger: Das beobachten wir auch. Trotzdem sehen wir bereits eine ganze Reihe von Unternehmen, die über den Tellerrand schauen und nach vorne blicken. Sie beschäftigen sich unter anderem damit, neue Prozesse zu parallelisieren. Dadurch gewinnen sie an Geschwindigkeit, entwickeln neue Arten der Zusammenarbeit, brechen aus ihren altbekannten Silos aus und stärken die eigene Innovationskraft.

Lässt sich denn diese digitalisierte Arbeitswelt in traditionelle Arbeitsstrukturen integrieren?

Janssen: Genau dafür müssen diese Arbeitsstrukturen modernisiert werden. Um zum Beispiel den klassischen Produktentstehungsprozess zu verkürzen, müssen Prozesse digitalisiert, Daten in Echtzeit ausgetauscht, Abstimmungsprozesse verkürzt und die Zusammenarbeit zwischen den Beteiligten neu gestaltet werden. Ein Auto ist noch lange kein Smartphone, das beim Kauf bereits veraltet ist, aber wir müssen von den Elektronik-Herstellern lernen, was wirkliche Erneuerungsgeschwindigkeit bedeutet.

Rüger: Um schneller zu werden, ist eine Abkehr vom Wasserfall-Prinzip und eine Parallelisierung der Prozesse notwendig. Und die Unternehmen müssen lernen, dass sie nicht mehr alles komplett vorplanen können und dann nur noch kontrollieren müssen. In Zukunft werden Arbeitsteams mehr Verantwortung übernehmen. Das heißt aber auch, dass man ihnen mehr Vertrauen entgegenbringen muss und sich weniger nach streng hierarchischen Strukturen richten kann. Eine zentrale Rolle bei diesem Wandel nehmen die Führungskräfte ein. Sie müssen ein neues Miteinander vorantreiben, unterstützen und ein Teil des Ganzen sein.

Coachen Sie dann auch Führungskräfte?

Janssen: Ja, wir coachen Führungskräfte. Das ist als Hilfestellung sehr sinnvoll, wenn sich die Führungs- und Arbeitsmodelle stark verändern. Wir helfen den Führungskräften, in diesem Kontext ihre neue Rolle zu finden und diese operativ umzusetzen. Sie müssen lernen, Zielkonflikte zu beherrschen, Teams den notwendigen Raum zu geben, ein Stück weit loszulassen und trotzdem jederzeit Umfang und Komplexität der Aufgaben im Blick zu behalten. Schließlich laufen die Fäden und Verantwortlichkeiten bei ihnen wieder zusammen.

Haben die OEMs aufgrund ihrer Finanzkraft bei Innovationen einen Vorteil?

Rüger: Grundsätzlich ist Innovationskraft unabhängig von der Größe des Unternehmens, das wird sich auch in Zukunft nicht ändern. Große Unternehmen haben zwar die Finanzkraft, gute Ideen zu professionalisieren und zu skalieren. Dafür zeichnen sich kleine und mittelständische Unternehmen seit jeher dadurch aus, dass sie aus Denkmustern ausbrechen, um neue Lösungen zu entwickeln.

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