Wie die Wirtschaft klimaneutral werden kann

Wie die Wirtschaft klimaneutral werden kann

20. Oktober 2021

Zeit zu handeln! COP26 ist die Chance, beim Klimaschutz konkret zu werden und gleichzeitig Wachstumschancen zu ergreifen.

"Die zentrale politische Gestaltungsaufgabe der Gegenwart besteht in der klugen Steuerung der gewaltigsten Transformation der Industriegesellschaft, die diese in ihrer rund 200-jährigen Geschichte erfahren hat."

Stefan Schaible

Die Bekämpfung der globalen Erwärmung hat in den letzten Jahren in zahlreiche internationale Abkommen und nationale Gesetze Eingang gefunden. Im Übereinkommen von Paris setzte sich die weltweite Staatengemeinschaft im Jahr 2015 zum Ziel, die Erderwärmung auf deutlich unter 2 Grad – möglichst auf 1,5 Grad – zu begrenzen.

Spätestens seit der Wahl Joe Bidens zum US-Präsidenten dürfte mittlerweile jedem klar sein, dass Nachhaltigkeit und konsequenter Klimaschutz keine Modethemen sind, die wieder von allein verschwinden. So hat die EU in diesem Sommer beschlossen, bis 2050 das Ziel der Klimaneutralität zu erreichen und die Treibhausgasemissionen bis 2030 auf mindestens 55 Prozent gegenüber dem Stand von 1990 zu senken.

Stefan Schaible, Global Managing Partner bei Roland Berger
Stefan Schaible, Global Managing Partner bei Roland Berger

Fünf Jahre nach COP21 in Paris steht nun COP26 in Glasgow auf der Tagesordnung. Der Kampf gegen den Klimawandel ist nicht mehr eine Frage des Ob, sondern eine Frage des Wie. Es geht jetzt nicht mehr darum, abstrakte Ziele zu beschreiben, sondern konkrete Wege aufzuzeigen, wie die vereinbarten Klimaziele erreicht werden können. Dazu müssen Wirtschaft und Politik, aber auch Staaten und Staatengemeinschaften zusammenarbeiten.

Eine Jahrhundertaufgabe – die Transformation der "klassischen" Industriegesellschaft hin zu einer Moderne der erneuerbaren Energien

Die zentrale politische Gestaltungsaufgabe der Gegenwart auf internationaler, nationaler und auf lokaler Ebene besteht darin, die gewaltigste Transformation der Industriegesellschaft, die diese in ihrer rund 200-jährigen Geschichte erfahren hat, klug zu steuern und zu lenken. Schließlich muss die Energiebasis der Industriegesellschaft innerhalb einer Generation, also in den nächsten gut 30 Jahren, komplett umgestellt werden – weg von Kohle, Öl und Erdgas hin zu erneuerbaren Energien.

Dabei sitzt die gesamte Menschheit in einem Boot. Die Optimierung nationaler Klimabilanzen kann nur helfen, wenn auf globaler Ebene insgesamt eine Reduzierung der CO2-Emissionen gelingt. Soll der Kampf gegen den Klimawandel erfolgreich sein, muss er multilateral angegangen werden. Eine Vielzahl von nationalen Alleingängen und Optimierungen nationaler Klimabilanzen wird nicht ausreichen.

Dekarbonisierung als Chance für die Wirtschaft: Roland Bergers Paradigma der "neuen Wettbewerbsfähigkeit"

Die Herausforderung des Klimawandels können wir nur meistern, wenn Unternehmen in der Dekarbonisierung keine Bedrohung, sondern neue gigantische Wachstumschancen erkennen.

Alle Branchen, Unternehmen und Regionen können profitieren: Innovationsführer haben die Chance, neue Märkte zu erobern – egal ob bei der E-Mobilität, bei der Produktion und beim Transport erneuerbarer Energien, in vielen Dienstleistungsbereichen oder im Finanzsektor, etwa bei nachhaltigen Anlagegeschäften.

Der Imperativ der Dekarbonisierung wird dabei zum Fundament eines neuen Verständnisses von Wettbewerbsfähigkeit. Vereinfacht gesagt, hatte man bisher dann einen Wettbewerbsvorsprung, wenn man in Qualität oder Preis führend war. Die Wettbewerbsfähigkeit basierte also auf Faktoren wie einer überlegenen Kostenstruktur, einem einzigartigen Produkt oder einer Innovation. Gemäß dem von Roland Berger entwickelten Paradigma der "neuen Wettbewerbsfähigkeit" hängt diese künftig insbesondere vom Handeln oder Nichthandeln in Klimafragen ab.

Im Klartext: Je schneller sich Unternehmen auf das neue Paradigma der Wettbewerbsfähigkeit ausrichten, desto eher können sie das Potenzial der neuen Währung "CO2-Emissionen" ausschöpfen, das sich dann im Preis und in der Qualität niederschlägt.

Umstellung der Energiewirtschaft auf eine nachhaltige Basis als Herkulesaufgabe für Wirtschaft und öffentliche Hand

Klimaneutralität bis 2050 bedeutet fundamentale Änderungen für unsere Art des Wirtschaftens und Zusammenlebens. Als Kernelement muss unser gesamtes Energiesystem in den nächsten drei Jahrzehnten radikal umgebaut werden. Denn Produktionsprozesse und Dienstleistungen müssen ihren Energiebedarf künftig aus erneuerbaren Quellen decken. Auch unsere Mobilität und unsere Art, Gebäude zu heizen, müssen auf "Renewables" umgestellt werden. Diese Sektorkoppelung bedeutet, dass fast alle Prozesse, die bislang auf fossilen Energieträgern basierten, künftig mit Strom aus erneuerbaren Energiequellen oder klimaneutral erzeugtem Wasserstoff betrieben werden müssen.

Gleichzeitig müssen wir langfristig denken, wenn wir bis 2050 klimaneutral wirtschaften wollen. Globale Klimaneutralität 2050 bedeutet vor allem, dass der globale Bedarf an klimaneutralem Strom laut Internationaler Energieagentur (IEA) von 78 Exajoule im Jahr 2020 auf 169 Exajoule im Jahr 2050 steigen wird. Noch größere Steigerungen liegen im Bereich des Möglichen. Wir werden in 30 Jahren also mehr als doppelt so viel Strom benötigen wie aktuell – und dieser Strom muss klimaneutral produziert werden!

Angesichts dessen muss der Förderung und dem Ausbau der erneuerbaren Energien oberste Priorität zukommen: Der Ausbau der erneuerbaren Stromerzeugung und des Stromnetzes ist eine der wichtigsten Grundvoraussetzungen zum Erreichen von Klimaneutralität. Hierfür müssen Genehmigungsprozesse und Einspeiseregelungen vereinfacht werden. Finanzielle öffentliche Anreize sind so zu setzen, dass sie wirklich massive private Investitionen entfesseln können.

Für Industrieprozesse, bei denen gegenwärtig und perspektivisch keine klimaneutralen Schlüsseltechnologien verfügbar sind, ist die Abführung von CO2 durch CCU-/CCS-Maßnahmen oder immerhin die Reduzierung von CO2-Emissionen durch eine Kreislaufwirtschaft zu gewährleisten.

Die Wirtschaft kann den Klimawandel positiv gestalten und ist bereit, massiv zu investieren. Aber die Rahmenbedingungen müssen stimmen.

Diese Aufgaben werden nur erfolgreich zu bewältigen sein, wenn genügend investiert wird – von Politik und Wirtschaft. Um Klimaneutralität zu erreichen, ist eine "Investment Wave" notwendig – also eine regelrechte Welle privatwirtschaftlicher Investitionen in klimaneutrale Industrieanlagen. Dazu sind klare und verlässliche politische Rahmenbedingungen, aber auch Anreize in Form sogenannter "Contracts for Difference" erforderlich, anhand derer die Mehrkosten klimaneutraler Technologien ausgeglichen werden.

Die Investitionen der Unternehmen müssen von einer Welle öffentlicher Investitionen flankiert werden, welche die infrastrukturellen Voraussetzungen klimaneutralen Wirtschaftens schaffen und die nötige Grundlagenforschung – beispielsweise im Bereich CCS – finanzieren.

Die Megatrends des 21. Jahrhunderts: Digitalisierung und Dekarbonisierung schaffen einen absehbaren und nach Glasgow hoffentlich planbaren Handlungsrahmen

Immer wieder hört man, die Zukunft sei so ungewiss wie schon lange nicht mehr. Und auf den ersten Blick steckt in dieser Aussage auch etwas Wahres: Pläne für Investitionen und unternehmerische Strategien haben eine immer kürzere Halbwertszeit. Denn Unternehmen müssen unter hohem Handlungsdruck und großer Ungewissheit gleichzeitig sowohl planen als auch entscheiden.

Andererseits können sich Unternehmen heute auf zwei bedeutende Trends verlassen, welche die nächsten Jahrzehnte zweifellos prägen werden: die Digitalisierung und die Dekarbonisierung. Auf diese beiden Trends müssen Firmen jetzt die richtigen Antworten finden. Das erfordert neue Ideen, neue Geschäftsmodelle und vielfach auch technische Innovationen in allen Bereichen der Wirtschaft – hierfür brauchen Unternehmen verlässliche und planbare Rahmenbedingungen.

Wenn in wenigen Tagen COP26 in Glasgow beginnt, muss es also darum gehen, im Dialog zwischen Politik und Wirtschaft Spielregeln für die nächsten Jahre festzulegen. Diese Regeln müssen zeitnah in Kraft treten und mit Verlässlichkeit und angemessener Transformationsgeschwindigkeit die Marktkräfte entfesseln, ohne die die Klimaziele von Paris nicht erreicht werden können. Entscheidend ist: Die Transformation kann gelingen – wenn wir jetzt handeln und den richtigen Rahmen zur Umsetzung zu schaffen.

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Portrait of Stefan Schaible
Senior Partner, Global Managing Partner
Frankfurt Office, Zentraleuropa