Die Gewinner-Formel

Performance: Schneller, Höher, Stärker 
Die Gewinner-Formel

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München Office, Zentraleuropa
27. September 2023

Reibungslose Teamarbeit spart wertvolle Zeit

Artikel

von Gary Rose
Fotos von Red Bull, Mark Thompson, Joerg Mitter, Getty Images

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In der Königsklasse Formel 1 erfordert Spitzenleistung eine Mischung aus Tapferkeit, Fitness und mentaler Stärke.

In diesem Moment geht es um alles: Der Fahrer deines Teams kämpft um den Sieg in der Weltmeisterschaft der Formel 1. Doch die Reifen müssen gewechselt werden, ein Boxenstopp lässt sich nicht mehr hinauszögern. Beim Reifenwechsel darf kein Fehler passieren. Wird auch nur der Bruchteil einer Sekunde vergeudet, könnte das über Sieg oder Niederlage entscheiden.

Close-up of a Formula One pit stop team, wearing helmets and sponsored clothing, poised and waiting to tend to the car at the pit stop.
Wir sind bereit: Das Red-Bull-Team ist sofort zur Stelle, wenn der Wagen zum Boxenstopp hält.
"Wir überlegten uns, wie wir es besser machen, wie wir neue Standards setzen können."

Kenny Handkammer

Ehemaliger Formel-1-Chefmechaniker

Manchmal geht es in der Formel 1 darum auch ganz buchstäblich. "Wenn deine Frau und deine Kinder dich im Fernsehen sehen und du in Flammen stehst", erinnert sich Kenny Handkammer, "dann musst du dich schon fragen: Ist es das wirklich wert?" Das Erstaunliche an Handkammers Erzählungen ist nicht unbedingt der Inhalt, sondern die nüchterne Art, mit der er seine Geschichten von der Rennstrecke erzählt.

Das sollte man sehr ernst nehmen. Denn diese Punkte definieren nicht nur die Voraussetzungen für Spitzenleistungen, sie können auch Leben retten. Wie aber erreicht man dieses Spitzenniveau in einem hart umkämpften Sport, und wie holt man das Beste aus seinem Team heraus?

Kenny Handkammer

Handkammer war über viele Jahre einer der Top-Mechaniker der Formel 1. Er fing bei ­Benetton an, ging als Chef­mechaniker zu Renault und danach zu Red Bull. 2014 beendete er seine Karriere in der Formel 1 und startete 2015 bei Tesla.

Man muss schon ein bestimmter Typ Mensch sein, um in einem solchen Umfeld arbeiten zu können. Die hohen Gefahren, unregelmäßige Arbeitszeiten, die langen Reisen, das alles ist nicht jedermanns Sache. Hinzu kommt der Druck, permanent Höchstleistungen abliefern zu müssen. Aber man lernt viel. Und das lohnt sich. Denn das Gelernte kann man auch auf zahlreiche Herausforderungen abseits der Rennstrecke anwenden. Handkammer wechselte nach seiner Karriere auf der Rennbahn zu Tesla.

In der Formel 1 arbeitete Kenny Handkammer seit den späten 1980er-Jahren. Binnen 25 Jahren wurde er mit 13 Weltmeistertiteln zu einem der besten Chefmechaniker der Branche. Besonders gut war er darin, Außenseiter-Teams zu einer dominierenden Kraft in der Formel 1 zu formen. Im Benetton-Team arbeitete er eng mit Schumacher zusammen, als dieser 1994 und 1995 Weltmeister wurde. Beim Rennstall Red Bull verhalf er Sebastian Vettel zu vier Weltmeistertiteln.

"Als ich bei Benetton anfing, waren wir alle im gleichen Alter und hatten dieselbe Einstellung. Wir waren die Außenseiter und sehr entschlossen, das Team nach vorne zu bringen", erzählt Handkammer. "In den frühen 1990er-Jahren haben wir auf McLaren und Ron Dennis geschaut, sie setzten damals die Standards. Dann überlegten wir uns, wie wir es besser machen können."

View from above of a pit stop team in action all around the F1 vehicle, crouched down to change tires or conduct checks.
Chefmechaniker: Kenny Handkammer war Teil des Teams, das 2013 die Zwei-Sekunden-Marke beim Boxenstopp knackte – mit einem neuen Rekord von 1,92 Sekunden.
Ein Rekord jagt den nächsten

Boxenstopps finden ein- bis zweimal während eines Rennens statt.
Reifenwechsel können in wenigen Sekunden erledigt werden.
Rekordzeiten beim Boxenstopp helfen, Rekorde auf der Strecke zu brechen.

Boxenstopp-Rekorde 1950–1970:
1950: 67 Sek.
1965: 45 Sek.
1970: 27 Sek.

Boxenstopp-Rekorde 1980–1993:
1980: 11 Sek.
1993: 3,2 Sek.

Boxenstopp-Rekorde 2013–2019:
2013: 1,92 Sek.
2019: 1,82 Sek.

"Man muss 22 Leute darauf trainieren, das in zwei Sekunden zu schaffen."

Kenny Handkammer

Ehemaliger Formel-1-Chefmechaniker

Neue und immer höhere Standards in der Formel 1 hat Handkammer mit seinen Teams im Laufe seiner Karriere ohne Zweifel gesetzt. Er leistete Pionierarbeit bei der Optimierung von Leistung in einem extrem wettbewerbsintensiven Umfeld. Sein Schwerpunkt war der Boxenstopp. Denn die Pit­stops gehören zu den wichtigsten Momenten während eines Formel-1-Rennens. Jeder Sekundenbruchteil zählt.

Kenny Handkammer war Teil einer Benetton-Crew, die 1993 erstmals einen Boxenstopp in seinerzeit sensationellen 3,2 Sekunden schaffte – ein Rekord, der 17 Jahre lang nicht unterboten werden sollte. Im Jahr 2013 gehörte Handkammer einem Team an, das mit einem atemberaubenden Boxenstopp von 1,92 Sekunden zum ersten Mal die Zwei-Sekunden-Marke knackte. Handkammer betont, wie wichtig die Teamleistung für eine derartige Spitzenleistung ist: "Man muss 22 Leute darauf trainieren, das in zwei Sekunden oder noch schneller zu schaffen. Als wir das hinbekommen hatten, war das eine große Genugtuung." Natürlich sei dafür hart trainiert worden, erklärt er. "Aber das hat auf Dauer auch Nachteile mit sich gebracht. Denn die Leute langweilen sich irgendwann und verlieren ihre Motivation."

Handkammer lernte schnell. Wenn man Mitarbeiter überfordert, wirkt sich das negativ auf ihre Motivation aus. Sie werden müde, lustlos oder verletzen sich. Seine Lösung: Ziele und Belohnungen. Ein weiterer Lerneffekt: Man muss ein Team in unterschiedliche Richtungen entwickeln, damit alle Teile der "Team-Maschine" irgendwann miteinander in Kontakt kommen. Ebenfalls eine wichtige Rolle spielt eine enge Beziehung der Mechaniker zu den Fahrern, wenn ein Formel-1-Team erfolgreich sein will. ­Vettel war besonders gut darin, Freundschaften mit den Leuten zu schließen, die hinter den Kulissen arbeiteten. Im Jahr 2013, kurz nach dem Gewinn der Weltmeisterschaft, unterbrach er eigens seine Feier, um der Crew beim Packen zu helfen. So etwas kommt gut an.

Close-up of Kenny Handkammer wearing headset with microphone, Red Bull-sponsored jacket, blurred background.
Jede Millisekunde zählt: Schnelles, koordiniertes Teamwork beim Boxenstopp entscheidet über den Sieg in einem Formel-1-Rennen.
Die Boxenmannschaft
Ein Formel-1-Boxenteam besteht üblicherweise aus mehr als 20 Mitarbeitern. Alle haben während des Boxenstopps exakt definierte Aufgaben zu erfüllen, die über Sieg oder Niederlage entscheiden können.

Die "Jack Guys"

Mithilfe eines speziellen Wagenhebers ("Jack") montieren sogenannte "Jack Guys" die Reifen. Eine weitere Crew bedient die seitlichen Wagenheber, um Kotflügel oder Front zu tauschen.

Das Reifen-Team

Die sogenannten "tire gunners" sind für das Lösen der Radmuttern zuständig. Ein anderes Team entfernt die Muttern, ein weiteres setzt neue Reifen auf. Am Ende ziehen die "tire gunners" die Muttern wieder fest.

Die Frontflügel

Zwei Mechaniker justieren die aerodynamischen Klappen am Frontflügel. Sie verständigen sich mit dem Fahrer und sorgen dafür, dass sich das Auto so verhält, wie es sich der Fahrer wünscht.

Die Ampel

Der Chefmechaniker stand früher mit einem Schild vor dem Rennwagen und signalisierte dem Fahrer, wann er die Boxengasse sicher verlassen konnte. Heute übernimmt eine Art Ampel die Aufgabe.

Die Aufpasser

Während die anderen Posten in der Box unerlässlich sind, können die Teams Boxenbeobachter nach eigenem Ermessen einsetzen. Sie beobachten den Verkehr und achten verstärkt auf mögliche Zwischenfälle.

Neben gutem Teamwork ist der Rennsport natürlich knallharte Arbeit. Unterstützt werden die Fahrer durch detaillierte Analysen, die ihre Leistung steigern sollen. "Wenn man einen sehr intelligenten Fahrer hat, der die Daten verarbeiten kann und seine Fahrweise entsprechend anpasst, ist das großartig", erläutert Handkammer. "Ich bezweifle jedoch, dass jeder Fahrer das gut kann."

Rasante Arbeit auf und abseits der Rennstrecke

In der Formel 1 geht es auf und abseits der Rennstrecke um Sekundenbruchteile. Boxenstopps können über Sieg oder Niederlage entscheiden. Das Team muss perfekt aufeinander abgestimmt sein, damit der Reifenwechsel schnell und präzise über die Bühne geht. Ein Boxenstopp von mehr als 2,5 Sekunden gilt heute als nicht mehr tolerabel, weil der Fahrer dann ins Hintertreffen gerät und den Zeitverlust auf der Strecke aufholen muss.

Immer bessere Leistungen im Rennsport beruhen außerdem auf der richtigen Einstellung der Fahrer zu ihrer Arbeit. Sie konzentrieren sich heute weit mehr auf ihre körperliche Fitness. In der Formel 1 war es früher für die Zuschauer keine große Überraschung, wenn die Fahrer nach einem Sieg mit Zigaretten und Drinks in der Hand feierten. Heute leben erfolgreiche Rennfahrer mehr wie Athleten; sie halten strikte Diäten und engagieren Sporttrainer. Michael Schumacher war in dieser Hinsicht Trendsetter, er brachte ernsthaftes Fitnesstraining in die Formel 1. "Das ist es, was den Unterschied ausmacht: totales Engagement und volle Konzentration. Andere gingen damals vielleicht eine Stunde ins Fitnessstudio und aßen einen Teller Nudeln, um fit zu bleiben", sagt Handkammer.

Ein neuerer Trend in der Formel 1 zielt auf die geistige Fitness. Dr. Phil Hopley, Experte für psychische Gesundheit und leitender Sportpsychiater bei den Olympischen Spielen 2012 in London, wurde 2020 vom McLaren-F1-Team als Leistungscoach engagiert. Zunächst an sich nur, um das Team durch die schwierige Phase der Corona-Pandemie zu begleiten. So musste das sehr große Team in mehrere kleineren Arbeitsgruppen zu jeweils drei bis vier Leuten aufgeteilt werden, um die Infektionsrisiken beherrschbar zu halten. Die Ergebnisse von Hopleys Arbeit waren trotz der schwierigen Bedingungen in der Pandemie ausgezeichnet. Sie waren so gut, dass er blieb.

"Die mentale Belastung für die Fahrer ist genauso groß wie für andere Topathleten."

Phil Hopley

Experte für mentale Fitness

Hopley konzentriert sich inzwischen auf die psychische Feinabstimmung von Fahrern und Teammitgliedern. "Die mentale Belastung für die Fahrer ist genauso groß wie für andere Topathleten. Gleiches gilt für die meisten Menschen, die in anspruchsvollen Geschäftsbereichen arbeiten und viel auf Reisen sind. Sie dürfen nicht zu viel nachdenken", erläutert Hopley. "Diese Jungs haben eine unglaubliche Erfahrung am Steuer. Während sie die Informationen ihrer Renningenieure verarbeiten, geben sie auf der Strecke simultan Feedback in Echtzeit. Das wiederum fließt ein in das komplexe System der Ingenieure auf der Strecke und in der Zentrale. Wenn die Fahrer unter Druck stehen, müssen sie sich auf ihr Urteilsvermögen verlassen können. Die Fähigkeit, unter großem Druck unerwünschte Gedanken oder ein weißes Rauschen zu ignorieren, ist von entscheidender Bedeutung."

Vor drei Jahren belegte McLaren den dritten Platz in der Konstrukteursmeisterschaft der Formel 1, die höchste Platzierung seit 2012. Und in der darauffolgenden Saison sicherten sich die beiden Fahrer des Teams den ersten und den zweiten Platz beim Großen Preis von Italien. Das waren ihre ersten Podiumserfolge nach mehr als einem Jahrzehnt. "Phil hat unsere geistige Fitness verbessert, indem er sowohl die mentale Gesundheit als auch die Leistungspsychologie effektiv weiterentwickelt hat", sagt Tom Stallard, Renningenieur bei McLaren.

Kenny Handkammer beendete seine Karriere im Rennsport 2014. Er heuerte bei Tesla an, um die Techniken der Formel 1 auf die Serienproduktion von Straßenautos zu übertragen. Heute arbeitet er für den US-Elektroautohersteller Lucid Motors. "Es gibt viele technische Ähnlichkeiten zwischen der kommerziellen Autoproduktion und der Formel 1. Vor allem im Hinblick auf Service und Logistik. In anderer Hinsicht läuft die Produktion jedoch noch sehr viel langsamer ab, Genehmigungsverfahren zum Beispiel verzögern zahlreiche Prozesse", kritisiert Handkammer. Nach 25 Jahren auf der Überholspur kommt dieses gemächlichere Tempo auch Handkammer mittlerweile sehr entgegen: "Meine Zeit in der Formel 1 war fantastisch. Aber jetzt kann ich mich mehr auf meine Familie und meine anderen Interessen konzentrieren."

ÜBER DEN AUTOR
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Gary Rose
Gary Rose ist ein erfahrener Sportjournalist, der für die Press Association und zuletzt für BBC Sport über die Formel 1 berichtet hat. Er hat Rennen auf der ganzen Welt begleitet und ehemalige Formel-1-Weltmeister wie Michael Schumacher, Lewis Hamilton und Sebastian Vettel, inzwischen wohnt er in Manchester.
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