Die Sherpa-Strategie

Performance: "Schneller, Höher, Stärker"
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München Office, Zentraleuropa
27. September 2023

Zwei Bergsteigerinnen verraten, wie man seinen Leistungsgipfel erreicht

Artikel

von Steffan Heuer
Fotos von Getty Images, AFP, Lakpa Sherpa, Alison Levine, Laurie Bagley, Garrett Madison, Scott Woolums

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Den Mount Everest zu bezwingen, gelingt nur wenigen. Dabei sorgt der Auf- und Abstieg durch die "Todeszone" nicht nur für spannende Storys. Er kann Managern und Teams auch als Maßstab dafür dienen, wie sie ihre persönlichen Hindernisse überwinden können.

Sich eine Eiskaskade hochzuquälen hat viele Gemeinsamkeiten damit, die Karrierestufen einer Investmentbank zu erklimmen – findet die Extrembergsteigerin Alison Levine, die vor ihrer Besteigung des Mount Everest im Mai 2002 bei Goldman Sachs arbeitete. Als Führerin eines Frauenteams kam sie dem Gipfel auf rund 100 Meter nahe, musste jedoch aufgrund eines Sturms umkehren.

A landscape photo from above of the summit of Mount Everest on a bright sunny day, several approaching climbers visible in red outdoor clothing.
Verdiente Aussicht: Der Blick vom Gipfel des Mount Everest ist der Lohn für die mentalen und körperlichen Strapazen der Planung und des Aufstiegs.
"Kein Unternehmensführer wird jemals sagen, dass Selbstzufriedenheit gut ist."

Alison Levine

Bergsteigerin und Autorin von "On the Edge"

Diese Erfahrung führt immer wieder zu interessanten Gesprächen. Zum Beispiel mit dem Banker, der sie fragte, was sie beruflich macht, und dann meinte: "Sie haben den Mount Everest also nicht bestiegen." Levines Gegenfrage: "Was machen Sie denn?" "Ich arbeite bei J.P. Morgan." "Sind Sie der CEO?" "Nein", erwiderte ihr Gesprächspartner. "Ich handle mit festverzinslichen Wertpapieren." Woraufhin sie konterte: "Dann arbeiten Sie also nicht wirklich bei J.P. Morgan, oder?"

Es sind temperamentvolle Anekdoten wie diese, die sie zu einer begehrten Speakerin auf Konferenzen, Firmenveranstaltungen und Gastdozentin an der Militärakademie West Point gemacht haben – besonders nachdem sie es schließlich 2010 auf den Gipfel des Everest geschafft hatte. Beim Ersteigen der höchsten Berge auf jedem Kontinent und beim Skifahren zu beiden Polen lernte sie einige harte Lektionen. Diese nutzt sie heute nicht nur als spannende Abenteuergeschichten, sondern wendet sie auch auf die Geschäftswelt an. Levine zeigt auf, wie man ein effektiver Anführer wird, ein Team formt, das nicht zerbricht, und vor allem anpassungsfähig genug bleibt, um scheinbar unerreichbare Ziele zu erreichen: "Kein Unternehmensführer wird jemals sagen, dass Selbstzufriedenheit gut ist, dass gute Beziehungen unwichtig sind, dass die Klärung von Zielen nicht zählt oder dass es nicht wichtig ist, seine Mitarbeiter vor Gefahren zu schützen."

Levine ist nicht die einzige Gipfelstürmerin, die den inneren Wert der Vorbereitung auf einen anspruchsvollen Aufstieg predigt. Schon bevor 2014 Levines On the Edge erschien, machte Laurie Bagley ihre Everest-Besteigung 2010 mit Summit! zu einem Buch, das auch auf Meereshöhe relevant war. Gemeinsam definieren beide die Fähigkeiten, die Denkweise, die Prozesse und die Ausrüstung, die es braucht, um jeden denkbaren imaginären Berg zu bezwingen. In der Geschäftswelt könnte man das Roadmap oder Go-to-Market-Strategie nennen. Für Bergsteiger wie Bagley und Levine war die Vorbereitung auf den Everest ein jahrelanger Prozess, nicht nur körperlich. Viel wichtiger als das Training von Klettertouren in extremer Umgebung, das Schleppen von Gewichten oder tagelang mit wenig Essen oder Schlaf auszukommen war das, was Bagley die "mentale Packliste" nennt: "Du musst dir wirklich im Klaren sein, warum du etwas tust. Denn nur dieses Ziel erzeugt die Anziehungskraft für die benötigten Ressourcen, Menschen und Ideen." Als Nächstes stellt man ein Team von Mentoren und Beratern zusammen. Genauso wichtig ist eine ehrliche Bestandsaufnahme der eigenen Fähigkeiten. Bagley glaubt, dass Selbstbeobachtung und das frühzeitige Ansprechen von Defiziten ihr den Mut gegeben haben, die nötigen Extraschritte zu machen, weil sie sie fühlte, dass es in ihr steckte: "Es waren diese fünf Schritte mehr, die mich bis zum Gipfel gebracht haben."

Eine mentale Packliste für Bergsteiger – und Manager –, zusammengestellt von Laurie Bagley

Um sich einen großen Traum zu erfüllen, braucht man die passenden Werkzeuge. Das gilt für Berge wie für Lebensziele.

1. Definieren Sie das große Warum. So locken Sie Menschen, Ideen und Ressourcen an.
2. Finden Sie Mentoren und Coaches.
3. Schätzen Sie Ihre Fertigkeiten und Defizite ehrlich ein.
4. Wählen Sie Ihr passendes Mantra.
5. Stellen Sie Ihr Team zusammen, basierend auf Erfahrung, Expertise und Ego.
6. Schaffen Sie sich ein Netzwerk jenseits Ihres inneren Zirkels.
7. Machen Sie sich klar, dass Rückschritt manchmal Fortschritt bedeutet.
8. Definieren Sie frühe Warnzeichen, damit Sie rechtzeitig kehrtmachen können.
9. Brechen Sie nichts übers Knie, das verschwendet nur Zeit und Kraft.
10. Sehen Sie Ihre Fehler als Lehrstunden an – für den nächsten Versuch!

Kletterer haben, ganz ähnlich wie Manager, große Egos. Entgegen gängiger Management-Weisheit sind das jedoch genau die richtigen Personen für ein Team, argumentiert Levine, die auch im Vorstand des Coach K Center on Leadership & Ethics an der Duke University sitzt: "In deiner Mannschaft brauchst du Menschen, die gut sind und die wissen, dass sie gut sind – das gibt ihnen das Selbstvertrauen, dass sie gewinnen können." Sie unterscheidet dreierlei: Leistungs-Ego, berechtigtes Vertrauen und Team-Ego sowie den Stolz, Teil von etwas zu sein: "Timing, Nähe und ein gemeinsames Ziel reichen nicht aus, um ein zusammenhängendes Team zu bilden."

Hinzu kommt überdies ein entscheidender Netzwerkeffekt. Um turmhohe Herausforderungen zu überstehen, müsse man Verbindungen jenseits seines inneren Zirkels knüpfen. Daher stellt sich Levine jedem im Lager vor, auch Fremden, lange bevor der Aufstieg beginnt. Wenn man jemanden kennengelernt hat, erhöht sich die Chance, nicht am Berg zurückgelassen zu werden. Es gehe darum, "sich in jeder Karrierephase Zeit für Menschen zu nehmen – Menschen, die dich unterstützen und dir vielleicht sogar das Leben retten können."

Zum Gipfel des Everest führen viele Wege. Bergsteiger wie Levine, die den südlichen Weg über Nepal wählte, und Bagley, die sich für den weniger überfüllten nördlichen Weg über Tibet entschied, steigen größtenteils auf, um sofort wieder abzusteigen. Ein längerer Aufenthalt in der "Todeszone" oberhalb von 8.000 Metern wäre nur ­möglich, wenn man in Intervallen aufsteigt und immer wieder absteigt, um Kräfte zu sammeln.

Solche taktischen Rückzüge sind etwas ganz anderes als ein Rückzieher, wie Levine in ihren Vorträgen betont. "Es ist herausfordernd und sehr frustrierend", räumte sie während eines Auftritts bei Google ein. "Du gehst rückwärts, machst aber dennoch Fortschritte. Fortschritt geht nicht immer in dieselbe Richtung. Zurückzugehen bedeutet nicht Rückschritt, sondern eine Gelegenheit, sich neu aufzustellen, um beim nächsten Mal besser zu sein." Bagley sieht dies als Geduldsspiel, das auf jedes Projekt zutrifft. "Die Besteigung des Mount Everest erfordert ein zweimonatiges Engagement. Man geht rauf und runter und hofft auf ein Zeitfenster von vier oder fünf Tagen mit gutem Wetter für den Gipfelsturm." Das habe sie gelehrt, zu warten: "Wenn du keine Abkürzungen nimmst, deine Arbeit erledigst und alle Fähigkeiten beherrschst, wirst du es wahrscheinlich schaffen, nur eben nicht in dem zeitlichen Rahmen, den du dir vorgestellt hast. Da hilft ein hoch gesetztes Mission- und Vision-Statement." Um mit dem Stress umzugehen, hatten beide Frauen eigene Mantras. "Ein Mantra hilft dir dabei, dir vorzustellen, wohin es geht, und ermöglicht dir, die Dinge zu vereinfachen", sagt Bagley.

Am Ende öffnete sich für beide ein Zeitfenster mit gutem Wetter. Doch dann war es seltsam unspektakulär, auf dem Gipfel der Welt zu stehen, sagt Levine: "Ich dachte mir, ist das alles? Es verändert nichts. Worum es wirklich geht, ist der Weg und was man auf ihm lernt." Abgesehen vom obligatorischen Foto bleibt kaum Zeit, den Moment zu genießen. Nach dem acht- bis zehnstündigen Kampf zum Gipfel ist der Abstieg der gefährlichste Teil des gesamten Vorhabens. Erschöpfung, die Unfähigkeit, klar zu denken, und zu frühe Zufriedenheit vermischen sich zu einer oft tödlichen Mischung. Seit der ersten erfolgreichen Besteigung im Jahr 1953 sind am Everest mindestens 310 Menschen gestorben, die meisten von ihnen während des Abstiegs.

"Du musst Warnzeichen definieren und beachten. Ich habe drei 'rote Flaggen'."

Laurie Bagley

Bergsteigerin und Autorin von "Summit!"

Ziel des Spiels ist, keine Fehler zu machen. "Du musst Warnzeichen definieren und auf sie achten", erklärt Bagley. Sie benennt drei "rote Flaggen", Ereignisse, die lebensbedrohlich sein könnten. Nur wenn sie solche kritischen Probleme schnell genug lösen könnte, würde sie weitermachen. Ein Beispiel vom Second Step, einer berüchtigten Steilwand auf 8.610 Metern: Als sich ihre Steigeisen in alten Seilen verhedderten, konnte sie die Seile nicht selbst entwirren. "Ich wusste, dass ich hier 3.000 Meter in die Tiefe stürzen würde, bei nur einem falschen Schritt." Obwohl ihr Sherpa außer Sichtweite war, gelang es Bagley, sich zu beruhigen und normal zu atmen, um Sauerstoff zu sparen, während sie darauf wartete, dass der nächste Kletterer hinter ihr aufholte und sie befreite. Dieses Missgeschick war eine "rote Flagge" mit gutem Ausgang. "Bei jedem Projekt wird es ungewollte Ergebnisse geben. Der Unterschied besteht darin, zu wissen, ob man die Widrigkeiten überwindet oder ob man gegen den Strom schwimmt."

Sich wieder an das normale Leben zu akklimatisieren ist eine eigene Art Abstieg, der Zeit zum Nachdenken und zur Neubewertung erfordern kann. "Das ist schon bizarr. Du hast dieses superwichtige Ziel erreicht, das du über Jahre hinweg verfolgt hast, und plötzlich sitzt du wieder an deinem Schreibtisch", beschreibt Levine ihre postmontane Depression, die man am besten auf die nächste Aufgabe umlenke: "Wenn man dann glaubt, das sei unübertrefflich, sollte man seine Denkweise anpassen. Es gibt immer etwas Neues, etwas anderes. Es gibt immer etwas, das dich herausfordert und wachsen lässt, du musst nur groß denken."

Auch wenn Bagley die Berge inzwischen hinter sich gelassen hat, geht sie schwierige Ziele immer noch genauso an: "Egal, was als Nächstes kommt, es gibt immer das anfängliche Warum. Ob du den Leuten nun erzählst, dass du auf den Everest willst oder in einer Firma arbeitest, andere finden große Träume manchmal bedrohlich. Klar beeinflusst einen das, aber wenn man ein klares Ziel vor Augen hat, kann einen nichts aufhalten."

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Steffan Heuer lebt in Berlin und Kalifornien. Seit mehr als zwei Jahrzehnten schreibt er über Technologie, Wirtschaft und Kultur des Silicon Valley, unter anderem für The Economist, die MIT Technology Review und brandeins.
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