Ein Leitfaden für die postpandemische Ära

Think:Act Magazin “Alles auf Anfang”
Ein Leitfaden für die postpandemische Ära

Portrait of Think:Act Magazine

Think:Act Magazine

München Office, Zentraleuropa
29. Oktober 2020

Erfolgreiche Unternehmen gestalten die neue Normalität nach der Coronakrise mit.

COVER-STORY

von Bennett Voyles
Illustrationen von Joe Waldron und Joe McKendry

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Langzeitplanung? Das war einmal. Jetzt zählt nur eines: Wie bereiten Sie Ihr Unternehmen auf eine postpandemische Welt vor, in der nichts so sein wird wie zuvor? Wir haben Experten um Antworten gefragt.

Auf einmal ist alles anders. Und zwar so grundlegend, dass einige sagen, dass es nie wieder so sein wird wie zuvor. Covid-19 hat eine Schneise der Verwüstung durch Staaten und Volkswirtschaften geschlagen. Die Pandemie hat zahlreiche Unternehmen zerstört und andere ins Wanken gebracht. Nach Wochen und Monaten von Lockdowns, zusammengebrochenen Lieferketten, Konsumrückgang und eingeschränkten sozialen Kontakten steht nun eine Frage groß im Raum: Wie wird das Morgen aussehen?

Alles deutet auf Beschleunigung hin: Dinge, für deren Umsetzung Firmen fünf oder gar 20 Jahre eingeplant hatten, passierten innerhalb weniger Monate, manchmal innerhalb weniger Wochen. Diese Beschleunigung kann grundlegend unsere Vorstellung von dem verändern, was machbar ist.

Wir müssen Dinge neu bewerten. Vielleicht sogar alles zurück auf Anfang stellen. "Wir kehren nicht in die Welt zurück, aus der wir gekommen sind", sagt Cary Cooper, Professor für Organisationspsychologie an der University of Manchester. "Wir müssen grundlegend überdenken, was wir verkaufen, wie wir es verkaufen und vielleicht sogar, warum wir es verkaufen." Führungskräfte hassen Überraschungen. Jetzt erlebten sie eine nach der anderen. Zur größten Wirtschaftskrise seit den 1930er-Jahren gesellen sich ständig wechselnde Hygienevorschriften.

Hinzu kommen die schwersten Rassenunruhen in den USA seit den 1960er-Jahren, die wiederum weltweite Proteste auslösten. Alles, so scheint es, steht zur Disposition. Wie heißt es im Schluss-Refrain von Hamilton, dem überwältigend erfolgreichen Hip-Hop-Musical über die amerikanische Revolution? "Wir leben in einer Welt, die Kopf steht."

EDWARD D. HESS

lehrt als Professor an der Darden School of Business der University of Virginia und ist Autor zahlreicher Bestseller zu Wachstum, Innovation und Lernkultur.

Wer in dieser Welt mithalten will, muss sich anpassen können. So wie der Disney-Konzern, der die 79 Millionen US-Dollar teure Verfilmung von Hamilton nicht, wie geplant, erst in Kinos verwertete, sondern direkt zum Streaming freigab, um die Abonnentenzahlen seines neuen Kanals Disney+ zu erhöhen. Wir stehen vor einer ähnlichen Herausforderung wie unsere Vorfahren, als sie die Bäume der ausgetrockneten Regenwälder verließen und sich dem Leben in der Savanne anpassen mussten, meint Edward D. Hess, Professor an der University of Virginia.

Auch in der jüngeren Vergangenheit finden sich vergleichbare Szenarien, sagt Carl Benedikt Frey, Leiter des "Future of Work"-Programms an der Oxford Martin School. Er analysierte die Folgen der Spanischen Grippe von 1918. "An den Orten, die am schlimmsten betroffen waren, lässt sich eine dauerhafte Abnahme sozialen Vertrauens und menschlicher Interaktionen feststellen", sagt er. Selbst wenn sich 90 % der Menschen wieder so verhielten wie zuvor, aber die anderen 10 % weiter zu Hause blieben, reicht das aus, um enorme Verschiebungen in Gesellschaft und Wirtschaft zu bewirken, sagt er.

"Unternehmen werden mit Plänen und Betriebsanleitungen geführt", sagt Jagdish Sheth, Marketingprofessor an der Emory University in Atlanta. "Aber plötzlich gelten viele alte Regeln nicht mehr. Manager müssen lernen, wie man improvisiert." Es ist ein neues Ökosystem entstanden, mit neuen Bedrohungen – aber auch mit neuen Chancen.

"Die digitale Transformation steht nun weit oben auf der Agenda."
Portrait of Rita Gunter McGrath

Rita Gunter McGrath

PROFESSORIN FÜR MANAGEMENT
Columbia Business School
RITA GUNTHER MCGRATH

ist Expertin für Innovation und Wachstum, Professorin für Management an der Columbia Business School und Autorin von "Seeing Around Corners: How to Spot Inflection Points in Business Before They Happen"

1. Strategie: Dort gibt es kein Dort.

Dort gibt es kein dort – scherzte einmal die Schriftstellerin Gertrude Stein über ihre Heimatstadt Oakland. Das gilt heute auch für die Wirtschaft: Die virtuelle Welt bildet jetzt den Kern von Unternehmen, unabhängig von der Branche. "Die digitale Transformation ist auf der Agenda weit nach oben gerückt", sagt Rita Gunther McGrath , Expertin für Innovation und Wachstum. "Was ein Plan für drei bis fünf Jahre war, ist nun ein Plan für 12 oder 18 Monate."

Einfach effizienter zu agieren, reicht nicht, sagen führende Management-Vordenker. Unternehmen müssen darüber hinaus eine Art "digitales Skelett" aufbauen, das es erlaubt, an allen Stellen der Wertschöpfungskette auf Daten zuzugreifen. Dies ist die Grundlage dafür, dass Mitarbeiter von zu Hause aus arbeiten und Unternehmen sich neu erfinden können. Einige Unternehmen haben sich schon jetzt auf virtuellere Geschäftsmodelle eingestellt, beispielsweise der Einzelhandel. E-Commerce wird in rapidem Tempo zum dominierenden Verkaufskanal.

Vor der Coronakrise entschied man sich je nach Einzelfall dafür, online zu shoppen. Dinge des täglichen Bedarfs wie Lebensmittel kaufte man vorrangig im Ladengeschäft. Das hat sich verändert. Mehr und mehr gehen die Konsumenten dazu über, im Netz zu bestellen. Für Menschen, die über Monate hinweg ihre Grundnahrungsmittel online bestellt haben, ist der Gang ins Geschäft zur Ausnahme geworden, auf die sie sich neu einstellen müssen.

Auch die Nutzung virtueller Dienstleistungen hat zugenommen, insbesondere im medizinischen Bereich. Und das ist gut so. "Warum sollte man sich treffen? Ein virtueller Termin spart beiden Seiten Kosten und Zeit", sagt Sheth. Dienstleister müssen darum überlegen, wie sie zumindest den größten Teil ihres Angebots in die virtuelle Welt übertragen.

2. Verkaufen: Da sein, ohne dort zu sein.

Die Nachwirkungen der Coronakrise werden für verschiedene Menschen sehr unterschiedlich ausfallen – je nachdem, welcher gesellschaftlichen Gruppe sie angehören und wo sie leben. Ältere werden künftig vielleicht nicht mehr fliegen und Jüngere nicht mehr zu Hause bleiben wollen, meint Digitalexperte Steve Blank.

Selbst innerhalb der USA werde es große Unterschiede geben, abhängig davon, wie stark eine Region von der Pandemie betroffen war. Marketingleute müssten darum in Zukunft Zielgruppen wesentlich enger definieren, sagt Blank: "Wir führen gerade ein Experiment durch, das zuvor weit entfernt liegende Entwicklungen um zehn Jahre beschleunigt hat." Die Regeln ändern sich. Schon jetzt hat uns die Krise gelehrt, dass Videokonferenzen persönliche Treffen nicht nur ersetzen, sondern sogar die bessere Alternative sein können. "Mein Rat lautet: Das erste Treffen sollte grundsätzlich online stattfinden. Verschwenden Sie keine Zeit mit sinnlosen Fahrten zu Meetings", sagt Blank.

Videokonferenzen sind eine bestens geeignete Methode, um geschäftliche Gespräche zu führen. Obendrein eine, die hilft, dabei Zeit und Geld zu sparen. Noch ist es allerdings eine Herausforderung, virtuell Unterhaltungen zu führen, die in die Tiefe gehen. "Ein großer Teil der Signale, die wir in persönlichen Treffen wahrnehmen, egal ob geschäftlich oder privat, basiert auf vielen physischen Hinweisen, die wir unbewusst wahrnehmen – so sind wir Menschen konditioniert." Diese Wahrnehmung wird zusätzlich durch die Umgebung beeinflusst. "Es kann eine Rolle spielen, ob man sich in einem Café trifft oder in einem schicken Konferenzraum im 47. Stock", sagt Blank. "Auch die Kleidung der Teilnehmer beeinflusst unsere Wahrnehmung. Nach einigen Theorien sogar Gerüche und Pheromone."

Auf Dauer werden wir wohl auch diese Hürde überwinden. Blank glaubt, dass die Coronakrise Softwareentwickler dazu anspornen wird, Tools zu entwickeln, mit denen wir auch in Videokonferenzen nonverbale Signale wahrnehmen können. Schon jetzt gibt es Software, die Gesichtsausdrücke interpretieren kann. Blanks Prognose lautet, dass schon bald Produkte auf den Markt kommen werden, die diese Technologie auf Videokonferenzen übertragen.

"Mein Rat lautet: Das erste Treffen sollte grundsätzlich online stattfinden."
Portrait of Steve Blank

Steve Blank

DIGITALEXPERTE; INVESTOR; MITBEGRÜNDER
Lean-Startup-Bewegung
STEVIE BLANK

ist Digitalexperte, Investor und Mitbegründer der Lean-Startup-Bewegung

3. Management: Verbindung herstellen.

Neue Regeln bringen auch neue Rollen mit sich. Zunehmend wird Führungskräften bewusst, dass sie andere Methoden anwenden müssen. Das bedeutet vor allem, mehr Zeit in Teams zu investieren. Denn der Faktor Mensch spielt nun eine entscheidende Rolle. Das ist eigentlich nichts Neues, aber künftig wird dieser Aspekt mehr Gewicht erhalten. Damit ändert sich auch die Rolle von Managern fundamental: weg von jemandem, der ein Unternehmen managt, hin zu jemandem, der die Menschen leitet, die das Unternehmen ausmachen (während Computer im Hintergrund die operative Arbeit leisten). Neu ist auch, dass Interaktionen auf Augenhöhe erfolgen. Die wichtigste Aufgabe von Managern lautet darum: Softskills ausbauen, Nähe schaffen.

Natürlich bringt Homeoffice Herausforderungen mit sich. Dennoch erwartet niemand, dass nach der Pandemie alle Büros wieder gefüllt sein werden. "Dumme Unternehmen werden so weitermachen wie zuvor, kluge Unternehmen werden erkennen, dass sie ihre Ausgaben für physische Assets senken können und gleichzeitig das Leben für ihre Mitarbeiter angenehmer gestalten müssen", sagt Blank. "Wenn viele Mitarbeiter im Homeoffice arbeiten, erfordert dies aber einen anderen Typ von Führungskraft, und das über alle Ebenen hinweg", sagt Cooper. "Wir brauchen Menschen, die über herausragende soziale Kompetenz verfügen."

CARY COOPER

ist Professor für Organisationspsychologie an der Manchester Business School, University of Manchester.

Soft Skills von Managern werden in Zukunft genauso wichtig sein wie ihre Fachkompetenz. Wenn Routinejobs wegfallen und das Arbeiten auf Distanz immer einfacher wird, steigt der Wert von Talenten. Das richtige Team für innovative, projektbasierte Arbeit zusammenzustellen wird eine zunehmend wichtigere Aufgabe. Es sieht danach aus, dass sich die Gesetzeslage in Europa ändert und die Einstellungsverfahren flexibler werden. Wenn dies passiert, werden Manager noch härter daran arbeiten müssen, Talente zu halten, sagt Cooper: "Unternehmen, die von qualifizierten Freiberuflern abhängig sind, müssen diese besser behandeln, um sie nicht zu verlieren."

4. Innovation: Räumliche Nähe bleibt wichtig.

Innovation beruht auf Interaktion. Die allerdings ist bei einer Videokonferenz nur eingeschränkt möglich. Aber wie stellt man virtuell das Gespräch in der Teeküche nach? "Dafür gibt es keine wirklich geeignete Software", sagt Blank. Doch es gibt ohnehin Anzeichen dafür, dass die Bedeutung von räumlicher Nähe im digitalen Zeitalter bereits abgenommen hat. Das lässt sich beispielsweise an gemeinsamen Patentanmeldungen ablesen, sagt Frey. Mit dem Siegeszug des Internets habe sich die durchschnittliche Entfernung zwischen Wissenschaftlern, die zusammen Patente einreichen, enorm vergrößert. Gleichzeitig sinkt aber die Zahl der Patentanmeldungen, wenn wissenschaftliche Konferenzen ausfallen.

Dies sei ein Hinweis darauf, dass sich Teammitglieder, die entfernt voneinander arbeiten, noch immer real treffen, um ihre Arbeit voranzubringen, meint Frey. Tools wie Donut, das von einem Start-up betrieben wird, an dem Blank als Investor beteiligt ist, versuchen, die Schwächen von Online-Treffen zu beheben, indem sie beispielsweise das Organisieren virtueller Kaffeerunden und Arbeitsgruppen erleichtern, Teilnehmer zum gemeinsamen virtuellen Lernen motivieren und dabei helfen, neue Mitarbeiter zu integrieren. So sollen Vertrauen und sogar Freundschaften entstehen.

CARL BENEDIKT FREY

leitet das "Future of Work"- Programm an der Oxford Martin School und ist Autor von The Technology Trap: Capital, Labor, and Power in the Age of Automation.

Teams online aufzubauen sei dennoch schwierig, sagt Blank. "Es ist ähnlich wie eine Ehe. Man kann beim Online-Dating feststellen, ob man einander sympathisch findet. Aber bevor man eine Beziehung eingeht, will man sich persönlich treffen", so Blank. "Auch ein Team kann man virtuell zusammenstellen, aber das erschwert es, Vertrauen aufzubauen und Probleme zu lösen." Frey glaubt, dass Büros und Cluster wichtig bleiben werden, um Innovationen voranzutreiben. "Urbanität bringt Vorteile mit sich, welche die Kosten überwiegen.

Historisch haben sich Innovationscluster stets in Städten gebildet: vom Florenz der Renaissance über das viktorianische Manchester und das Detroit des frühen 20. Jahrhunderts bis hin zum heutigen Seattle und dem Silicon Valley. Wissensintensive Branchen profitieren von gegenseitiger Nähe." Auch das Buch der Professorin und Berkeley-Dekanin AnnaLee Saxenian Regional Advantage: Culture and Competition in Silicon Valley and Route 128 zeigt deutlich, wie sehr ein Standort in der realen Welt Innovation beeinflusst, ganz besonders die Verbindung zu einem Universitätscampus.

Auch wenn noch nicht klar ist, welche Kommunikationsweise die beste sein könnte oder wie die perfekte Mischung aus realen und virtuellen Treffen aussehen könnte: Es wäre falsch, andere – mutmaßlich bessere – Zeiten abzuwarten, meint McGrath: "Wenn man eine gute Idee hat, die genau zu diesem Moment passt, wäre es dumm, auf bessere Bedingungen zu warten." Sie glaubt, dass die Zeiten, die wir gerade erleben, perfekt sind für Innovationen. "Die Geschichte lehrt: Schlechte Zeiten und Abschwünge sind oft der Zündfunke für großartige Einfälle."

"Urbanität bringt Vorteile mit sich, welche die Kosten überwiegen."
Portrait of Carl Benedikt Frey

Carl Benedikt Frey

LEITER DES "FUTURE OF WORK"-PROGRAMMS
Oxford Martin School

5. Finanzen: Talent und Diversität sind die wichtigsten Unternehmenswerte.

Investoren mögen Unternehmen mit ausgeglichenen Bilanzen, loyalen Kunden und stabilen Lieferketten, die nicht zu lang gestreckt sind. Unter dem Eindruck der Coronakrise könnte der letztgenannte Punkt deutlich wichtiger werden. Private-Equity-Fonds, die nach wie vor über viel Liquidität verfügen, werden zudem die Gelegenheit nutzen, sich genau die Assets zu sichern, deren Preise durch die Krise eingebrochen sind, die aber langfristig wieder an Wert gewinnen werden, meint Blank: menschliche Assets. Er ist überzeugt davon, dass Risikokapitalgeber im Silicon Valley dafür sorgen werden, dass viele gute Leute angeheuert werden, selbst wenn diese derzeit weniger nachgefragt seien. Dabei werden sie wahrscheinlich auf mehr Diversität setzen – auch als Reaktion auf die jüngsten "Black Lives Matter"-Proteste.

Das Silicon Valley hat sich in den letzten Dekaden stark verändert. "Vor 40 Jahren gab es hier nur weiße Männer in Segelschuhen", sagt Blank. "Die gläserne Decke war real. Traf man auf einen Asiaten, war er wahrscheinlich der Vizepräsident der Technikabteilung – zumindest wenn er für ein Unternehmen arbeitete, das mit Automatisierungstechnik oder Halbleitern zu tun hatte. Der CEO aber war immer ein Weißer." Die Rassismusdebatte bewirke nun einen Bewusstseinswandel, meint Blank. Venture-Capital-Firmen in den USA könnten möglicherweise mehr Geld in Teams investieren, die von Schwarzen geführt werden. Dies sei eine überfällige Korrektur. Im Nachklang der Krise könnten auch weitere wichtige Themen wie Ungleichbehandlung von Geschlechtern und Nachhaltigkeit angegangen werden.

6. Regulierung: Der Preis der Sicherheit.

Der Druck auf Politiker wird zunehmen, denn viele Bürger wollen besser geschützt werden. Das wird wahrscheinlich dazu führen, dass Verbraucherschutzgesetze und Sicherheitsvorschriften strikter durchgesetzt werden. Und Firmen werden nicht nur darüber nachdenken, welche Produkte am profitabelsten oder beliebtesten sind, sondern auch darüber, wie sie einen gesellschaftlichen Beitrag leisten können. Insbesondere Rassismus- und Geschlechterthemen werden eine große Rolle bei den Wählern spielen, glaubt Sheth.

Hohe Arbeitslosigkeit könnte diesen Druck noch verstärken. Während einige Experten vorhersagen, dass immer mehr und immer bessere Roboter eingesetzt werden, glaubt Frey, dass Krisen Politiker dazu veranlassen könnten, die rasante Automatisierung zu bremsen: "Während der Weltwirtschaftskrise zog US-Präsident Roosevelt in einigen Branchen Obergrenzen für den Einsatz von Maschinen ein. Möglicherweise werden wir etwas Ähnliches erleben." So befürworteten etwa in einer chinesischen Umfrage vor dem Lockdown lediglich 27 % der Befragten, Arbeitsplätze durch Beschränkungen bei der Einführung neuer Maschinen zu schützen. Wenige Monate später hatte sich diese Zahl auf 54 % glatt verdoppelt.

JAGDISH SETH

Marketing an der Emory University Goizueta Business School und Strategieberater.

Ein entscheidender Faktor wird sein, wie viel Vertrauen die Bürger ihrer Regierung am Ende der Pandemie entgegenbringen. Dieser Faktor kann die Handlungsfähigkeit der politischen Entscheider einschränken oder aber sie in ihrer Entschlossenheit bestärken. "Tendenziell steigt das Vertrauen in Regierungen während der Anfangstage des Krisenmanagements", sagt Frey. "Merken die Menschen später, dass Dinge schlecht gelaufen sind, sinkt es jedoch sehr schnell. Noch kenne ich keine Daten, aber ich glaube, dass sich dort, wo die Pandemie schlecht gehandhabt wurde, das Vertrauen in Institutionen verschlechtern könnte." Die Einschätzung der Bürger könnte auch davon beeinflusst werden, wie prominent Institutionen im öffentlichen Diskurs auftraten, sagt Frey. "In Schweden stand beispielsweise die Gesundheitsbehörde an vorderster Front, und sie hat die Pandemie nicht sehr gut bewältigt."

Und ganz zum Schluss: Lernen, verlernen, neues Lernen

Wer in den Wochen, Monaten und Jahren, die vor uns liegen, Schritt halten will, muss extrem anpassungsfähig sein. Kehrtwenden erfordern immer, dass Menschen Neues erlernen. Hess meint, wir müssten uns an einen Zustand gewöhnen, den er als "Hyperlernen" bezeichnet: kontinuierliches Lernen auf hohem Niveau, gefolgt vom Verlernen, gefolgt von neuem Lernen. Je schneller wir dies akzeptieren, desto schneller können wir unsere Gesellschaft so umgestalten, dass sie für die kommenden Jahrzehnte gewappnet ist.

Es ist ein guter Moment für Kühnheit, meint McGrath. "Wenn man akzeptiert, dass sämtliche Annahmen jederzeit durcheinandergewirbelt werden können und jeder etwas hat, um das er sich kümmern muss, dann bietet eine Situation wie die jetzige auch eine Chance: Wir bekommen viel Spielraum, um Sachen auszuprobieren." Mehr denn je könnte sich heute die Gelegenheit bieten, Ängste und Sorgen in etwas Positives umzuwandeln.

Wir haben die einmalige Chance, den vor uns liegenden Jahrzehnten dynamisch zu begegnen, indem wir jetzt neu starten und die Leitlinien, an denen wir uns lange orientierten, in neue Bahnen lenken. Alles auf Anfang.

7. Soziale Verantwortung: Gemeinsam handeln.

Eine Erkenntnis gesellt sich zu dem wirtschaftlichen Einbruch hinzu, der durch die Pandemie verursacht wird: Unser Wirtschaftssystem ist ungerecht und bietet für viele Bürger keine Vorteile. Es ist fast so wie während des "Gilded Age", der Ära zwischen 1870 und 1900, als Raubtierkapitalisten den Großteil der Wertschöpfung in den USA an sich rissen. "Wir brauchten die Entstehung der Gewerkschaften, zwei Weltkriege und eine Weltwirtschaftskrise, um zu begreifen, dass dies vielleicht nicht der beste Weg war, um eine Gesellschaft zu organisieren", sagt McGrath.

Auch in der Coronakrise hätten die großen Unternehmen sich kaum für die Belange der Allgemeinheit eingesetzt, meint Sheth. "Während Regierungsbehörden, NGOs und kleine Unternehmen hart daran arbeiten, den Menschen zu helfen, die von der Krise betroffen sind, sitzen die multinationalen Konzerne auf den Zuschauerbänken und hoffen auf Entschädigungen. Das muss man sich mal vorstellen."

Unternehmen müssen sich neu ausrichten – im Umgang mit Mitarbeitern, Kunden, Investoren, der Gesellschaft, aber auch mit ihren Mitbewerbern. Ein positives Beispiel dafür ist das beispiellose Maß an Kooperation in der Pharmaindustrie bei der Entwicklung eines Covid-19-Impfstoffs. Finanzieller Druck führt dazu, dass zunehmend diskutiert wird, Subventionen für bestimmte Branchen abzubauen, etwa für die Fracking-Industrie in den USA. Gleichzeitig investieren Staaten in Unternehmen, die bestimmte strategische Ziele verfolgen – so wie die deutsche Regierung, die sich mit 340 Millionen Euro an CureVac beteiligte, einem Start-up, das Impfstoffe entwickelt.

Die Notwendigkeit für eine übergreifende Zusammenarbeit wird nicht mit der Entwicklung eines Impfstoffs enden. Die Coronakrise ist die erste wirklich globale Herausforderung, die die meisten derzeit lebenden Menschen erleben, aber es wird wahrscheinlich nicht die letzte sein. Und vielleicht nicht einmal die bedrohlichste, denken wir nur an den Klimawandel. Mehr denn je gilt nun, was Wirtschaftsvordenker bereits seit Jahren sagen: Die Aufgabe von Wirtschaft besteht nicht nur darin, Gewinne zu erwirtschaften.

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