Dialogreihe „Future of HR“ – Interview mit Dr. Lena Lindemann 
CHRO Ergo Group AG

Dialogreihe „Future of HR“ – Interview mit Dr. Lena Lindemann 
CHRO Ergo Group AG

12. November 2025

In unserem „Future of HR“ Gespräch mit Dr. Lena Lindemann haben wir über die Auswirkungen von künstlicher Intelligenz (KI) und dem demografischen Wandel auf Jobprofile und Skills gesprochen. Insbesondere die Förderung einer Kultur des kontinuierlichen Lernens ist dabei eine zentrale Aufgabe der HR-Funktion.

Dr. Lena Lindemann ist promovierte Juristin und hat in ihrer Karriere viele internationale Unternehmen in arbeitsrechtlichen Fragen beraten. Als CHRO bei der Ergo treibt sie die Weiterentwicklung moderner HR-Strategien voran. Dabei setzt sie einen besonderen Fokus auf die Digitalisierung der Arbeitswelt.
Die Ergo Group AG mit Sitz in Düsseldorf ist eines der größten Versicherungsunternehmen Europas. Mit rund 26.000 Mitarbeitenden in über 20 Ländern ist das Unternehmen vor allem in den Versicherungssegmenten Leben, Sach und Gesundheit führend.

Nina Feuersinger: Europa steht vor einer ganzen Reihe tiefergreifender Herausforderungen: künstliche Intelligenz , politische Umbrüche, Fachkräftemangel und steigende Arbeitskosten. Welche aktuellen Megatrends haben den größten Einfluss auf die Belegschaft der Ergo?

Dr. Lena Lindemann: International beschäftigen uns vor allem die Megatrends Digitalisierung und künstliche Intelligenz sowie deren Auswirkungen auf unser Geschäftsmodell. In Europa und insbesondere in Deutschland - unserem größten Markt mit rund 13.000 Angestellten – schauen wir uns den Fachkräftemangel und demografischen Wandel genau an. Wir erwarten, dass bis zum Jahr 2030 knapp ein Drittel der Belegschaft in der Versicherungsbranche in den Ruhestand gehen wird. Deswegen ist es sehr wichtig, dass wir frühzeitig identifizieren, welche Fähigkeiten, Fertigkeiten und Kenntnisse dadurch verloren gehen und welche künftig – auch durch den Einfluss von KI – an Bedeutung gewinnen oder erstmals relevant werden. Was tun wir, um diesen Megatrends zu begegnen? Wir setzen auf zwei gezielte Maßnahmen: Zum einen investieren wir intensiv in künstliche intelligenz und neue Technologien, um produktiver zu werden und mit weniger Personal genauso viel oder sogar mehr zu leisten. Zum zweiten fokussieren wir uns auf Sourcing und Recruiting, weil wir überzeugt sind, dass wir durch eine starke Positionierung am Arbeitsmarkt und eine hohe Attraktivität als Arbeitgeber die besten Talente für uns gewinnen können.

Nina Feuersinger: Sie haben das Thema Fähigkeiten und Kompetenzen – also Skills – bzw. Future Skills, also Fähigkeiten, die Beschäftigte in Zukunft brauchen werden, bereits angesprochen. In anderen Branchen, in der Pharmaindustrie oder im Automobilbereich, beobachten wir, dass anstelle von Rollen verstärkt Skills strategisch identifiziert und gesteuert werden. Wie gehen Sie mit diesem Thema um?

Dr. Lena Lindemann: Für uns hat vor diesem Hintergrund die strategische Personalplanung stark an Bedeutung gewonnen. Dabei geht es nicht nur um die quantitative Erfassung von Angebot und Nachfrage und darum, wie Lücken durch Digitalisierung, Recruiting und Zukauf geschlossen werden können. Es geht auch um die qualitative Erfassung von Jobclustern, die Bestimmung des zukünftigen Bedarfs und den Abgleich mit dem Status quo. Unsere Erfahrung aus der Personalarbeit und den Fachbereichen zeigt, dass die Identifikation von Future Skills wichtig, aber auch eine große Herausforderung ist, denn Beschreibungen wie „digitale Fähigkeiten“ oder „Problemlösungskompetenzen“ sind oft sehr abstrakt und vage. Für mich ist die detaillierte Erfassung von zukunftsrelevanten Skills deswegen eine zentrale Herausforderung und Aufgabe von HR, die wir gemeinsam mit den Fachbereichen angehen.

Nina Feuersinger: Aktuelle Analysen zeigen, dass White-Collar-Jobs, also Arbeitsplätze im Büro, stärker von den Auswirkungen künstlicher intelligenz betroffen sind als Blue-Collar-Jobs, also Tätigkeiten etwa im produzierenden Bereich. Nachdem die Versicherungsbranche einen besonders hohen Anteil an White-Collar-Jobs hat: Wie erleben Sie die Auswirkungen von KI?

Dr. Lena Lindemann: Diese Erkenntnisse können wir bestätigen. Künstliche Intelligenz kann unsere Arbeit effizienter und effektiver machen. Aufgaben in der Schadensbearbeitung, an der Schnittstelle zum Kunden und auch in den Stabsfunktionen wie Finance, Legal und HR können stark vereinfacht und in Teilen sogar ersetzt werden. Gleichzeitig werden durch die neu entstehenden Arbeitsweisen mit KI neue Aufgaben und Jobs erforderlich, die wir heute zum Teil noch gar nicht kennen. Ich rechne beispielsweise damit, dass wir in absehbarer Zeit KI-basierte Personal Assistants haben, die viele Organisationsaufgaben für uns übernehmen.

Nina Feuersinger: Die von Ihnen angesprochenenen Agents sind die nächste große Entwicklungswelle im Bereich künstlicher intelligenz. Wir sehen bei unseren Kunden allerdings, dass die Einführung einer Technologie allein noch nicht zu den gewünschten Effizienzgewinnen führt. Vielmehr müssen sich Prozesse, Strukturen und vor allem Mitarbeitende und Führungskräfte verändern. Welche Bedeutung messen Sie KI im Führungskontext bei?

Dr. Lena Lindemann: Ich glaube, dass die Schnittstelle Mensch und KI in Zukunft ein zentrales Führungsthema sein wird. Wie führt man Maschinen? Wie bezieht man Maschinen bei der Personalführung ein? Diese Fragen mögen wie Science-Fiction klingen, es gibt aber schon erste Praxisbeispiele: So können etwa festgelegte Führungsstandards in eine KI eingepflegt werden, die in Konflikt- oder Führungssituationen konkrete Handlungsempfehlungen gibt. So hat mir in einem Praxistest ein Bot hilfreiche Vorschläge zur Handhabung einer Konfliktsituation zwischen zwei Mitarbeitenden gemacht und mich entsprechend gecoacht. Wir stehen in dieser Entwicklung erst am Anfang, aber ich bin überzeugt, dass sich in diesem Zusammenhang in der Personalführung noch einiges ändern wird.

Nina Feuersinger: Stichwort Führung: Sie haben ein neues Leadership Framework entwickelt. Was regelt es und welche Elemente sind Ihnen bei der Ergo besonders wichtig?

Dr. Lena Lindemann: Unser Leadership Framework hat vier Blöcke: Zentral ist die Definition eines Führungsstandards, der über alle Bereiche hinweg gilt. Unser Ziel: Durch einen kontinuierlichen, strukturierten Dialog zwischen Teams, Führungskräften und einzelnen Mitarbeitenden soll ein schlanker, einheitlicher und klar strukturierter Standard für Führungssituationen gesetzt werden. Der zweite Block betrifft die strategische Ausrichtung der Führungskräfteentwicklung. Hier setzen wir Schwerpunkte und reduzieren uns bewusst auf solche Themen, die für uns aktuell strategisch relevant sind. Diese werden dann von sämtlichen Führungskräften - vom Vorstand bis zum Gruppenleiter - vorangetrieben. Die gemeinsame Führungskultur ist der dritte Block des Leadership Frameworks. Sie unterstützt nicht nur die Standardisierung, sondern hilft auch, einheitliche Botschaften an die Belegschaft zu senden. Der vierte Block umfasst die diagnostikbasierte Auswahl und Entwicklung von Führungskräften auf allen Leveln. Gerade in Zeiten, in denen viele einschneidende Veränderungsprozesse stattfinden, ist es besonders wichtig, die Menschen bei Transformationen mitzunehmen, zu bewegen und gemeinsam auf ein Ziel hinzusteuern. Dabei muss stets die Balance zwischen Performance und Führung gewahrt bleiben. Hierauf ist unsere Diagnostik ausgerichtet.

Nina Feuersinger: Sie lenken seit 2022 die Personalarbeit der ERGO aus dem Vorstand: Mit welchen weiteren Themen beschäftigen Sie sich aktuell in der HR-Organisation?

Dr. Lena Lindemann: In der strategischen Personalagenda haben wir vier Säulen definiert: Zum ersten geht es um die Positionierung der Ergo als Arbeitgeber. Hierunter fassen wir sowohl die Marke als Ganzes als auch das zielgruppenspezifische Recruiting. Neben Fachpersonal und Experten sind insbesondere Auszubildende und Trainees eine wichtige Zielgruppe für uns. Die zweite Säule firmiert unter dem Begriff „Grow“ und zielt auf das globale Talentmanagement und unsere Mitarbeitenden weltweit ab. Dort geht es insbesondere darum, wie Arbeitsweisen länder- und gesellschaftsübergreifend gelebt werden. Das zuvor beschriebene Leadership Framework ist Teil der dritten Säule. Hier stehen Führung, People und Performance Management im Vordergrund. Grundlage all dessen sind die strategische Personalplanung und HR Analytics. Um fundierte personalbezogene Entscheidungen zu treffen, benötigen wir eine hohe Datenqualität und State of the art-IT-Lösungen für HR.

Nina Feuersinger: Ein weiteres wichtiges Stichwort ist das globale Talentmanagement. Im Kontext der Future Skills hat die Entwicklung von Mitarbeitenden herausragende Bedeutung. Gleichzeitig wird Mitarbeiterentwicklung häufig als exklusive Führungsaufgabe verstanden. Wie schaffen Sie es hier, als Personalbereich zentrale Impulse zu setzen?

Dr. Lena Lindemann: Besonders im Bereich Talententwicklung ist es wichtig, die gesamte Organisation zu befähigen. Skills müssen übergreifend gefördert werden, unabhängig von der individuellen Funktion im Unternehmen. Durch gezieltes Up- und Reskilling möchten wir technologische Kompetenzen und ein digitales Mindset auf allen Ebenen verankern. Strategien wie „Digital First“ oder „Digital Only“ unterstreichen diese Priorität und sind eng mit unserer Geschäftsstrategie verknüpft. Die HR-Funktion spielt hierbei eine zentrale Rolle, indem sie entsprechende Trainingsprogramme entwickelt und umsetzt.

Nina Feuersinger: Zum Abschluss die Frage: Welche Top-Themen sehen Sie in Zukunft am HR- bzw. Personalhorizont aufkommen?

Dr. Lena Lindemann: Neben den bereits genannten Themen wird kontinuierliches Lernen an Bedeutung gewinnen. Wir brauchen ein neues Verständnis von Arbeitsplatzsicherheit und gleichzeitig ein Selbstverständnis, sich weiterentwickeln zu wollen und zu müssen. In dem Zusammenhang bin ich kürzlich auf ein schönes Bild gestoßen: Ein Vogel auf einem Ast sorgt sich nicht darüber, ob der Ast brechen könnte – er vertraut vielmehr darauf, dass er fliegen kann. Übertragen auf das Thema Lernen und Skills bedeutet das, darauf zu vertrauen, dass man neue Fähigkeiten erwerben und sich weiterentwickeln kann, anstatt in einer festen Rolle zu verharren. Unsere größte Aufgabe im HR-Bereich ist die Förderung einer Unternehmenskultur, in der kontinuierliches Lernen und der Erwerb neuer Skills fest integriert sind.

Nina Feuersinger: Vielen Dank für das Gespräch.

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