Achtung, Lücke!
Zahlen zeigen, dass Frauen immer noch weniger verdienen als Männer. Könnte künstliche Intelligenz helfen, diese Lücke zu schließen?
Indra Nooyi war CEO von PepsiCo und erlebte selbst, wie schwer es ist, Karriere und Kindererziehung unter einen Hut zu bringen. Jetzt fordert sie Regierungen und Unternehmen auf, mehr Rücksicht darauf zu nehmen.
Ein indischstämmiger CEO, der einen amerikanischen Konzern führt? Heute erscheint uns an dieser Vorstellung nichts Ungewöhnliches. Die Liste solcher Unternehmen ist lang und sie enthält einige der mächtigsten Unternehmen der Welt wie Alphabet, Microsoft und IBM. Aber darüber lässt sich leicht vergessen, dass die Situation vor nicht allzu langer Zeit deutlich anders war. Als Indra Nooyi 2006 zum CEO von PepsiCo ernannt wurde, war sie nicht nur eine der ersten Frauen, die ein Fortune-500-Unternehmen führte, sondern auch einer der ersten CEOs, die aus einer Einwandererfamilie der ersten Generation stammen. Nachdem Nooyi in Kalkutta ein MBA-Studium absolviert hatte, wanderte sie in die USA aus, arbeitete zwei Jahre und erwarb an der Yale University den Master of Public and Private Management. Rasch als harte Arbeiterin bekannt, stieg sie schnell auf. Nach Stationen bei einer Beratungsfirma, Motorola und ABB fing sie 1994 bei dem Getränke- und Lebensmittelgiganten PepsiCo an. 2001 wurde sie dessen CFO, fünf Jahre später übernahm sie den Spitzenposten des Konzerns. Noch im selben Jahr führte Nooyi das Prinzip "Performance with Purpose" (PWP) ein, das sich als einer der herausragendsten Strategiewechsel in der Geschichte des Unternehmens erweisen sollte – und zur Benchmark für Nachhaltigkeitsprogramme in Unternehmen wurde. In ihrem 2021 erschienen Buch My Life in Full reflektiert die Mutter zweier Kinder nicht nur ihr eigenes Leben, sondern formuliert auch, was Unternehmen und Regierungen ändern müssen, um eine Infrastruktur zu erschaffen, von der Familien und Unternehmen gleichermaßen profitieren.
Sie kennen zwei Kulturkreise, die sich sehr voneinander unterscheiden, ganz besonders was die Rolle von Frauen betrifft. Wie balancieren Sie das aus?
Ich hatte das Glück, in einer sehr progressiven Familie aufzuwachsen. Ich bin das Produkt der größten Demokratie der Welt und einer Familie, die daran glaubt, dass Frauen genauso viel wert sind wie Männer und dass wir das Recht haben, aufzusteigen und das zu tun, was wir wollen. Diese Einstellung habe ich mit in die USA gebracht. Aber mir war dabei auch bewusst, dass ich innerhalb eines Rahmens agiere. Ich bin nicht ständig auf Partys gegangen, sondern habe hart gearbeitet. Ich wollte beweisen, dass ich niemals den Ruf meiner Familie oder der indischen Community beschädigen würde. Seitdem hat sich die Situation von berufstätigen Frauen konstant verbessert. Ich habe davon profitiert; und ich war eine derjenigen, die diese Veränderungen vorangetrieben haben.
Aber es gibt noch immer viel zu tun …
Das stimmt leider. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Frauen stellen 70 % aller High-School-Absolventen in den USA und mehr als 50 % der College-Absolventen. Das zeigt, dass es einen unglaublichen Pool an talentierten Frauen gibt. Aber gerade mal 2,3 % der Investitionen im Silicon Valley gehen an weibliche Gründer. Und in allen Unternehmen nimmt die Zahl der Frauen rapide ab, umso höher man die Ränge emporklettert. Weil es kein Netzwerk gibt, auf das sie bauen könnten, und weil sie erleben, dass es noch immer eine unbewusste Voreingenommenheit gibt. Wir müssen eine frauenfreundlichere Umgebung schaffen und Familien besser unterstützen. Alle Führungskräfte, Männer wie Frauen, sollten das Geschlecht ausblenden, wenn sie Arbeitnehmer auswählen, ausbilden, behalten oder fördern. Das ist leichter gesagt als getan, denn Menschen neigen dazu zu glauben, dass es leichter ist, mit jemandem zu arbeiten, der so aussieht wie sie und einen ähnlichen Hintergrund hat. Aber leichter ist nicht dasselbe wie besser. Diverse Ansichten führen zu besseren Entscheidungsprozessen und Ergebnissen.
Was halten Sie von Frauenquoten?
Das ist ein zweischneidiges Schwert. Ich glaube, dass Quoten gut dafür geeignet sind, einen Startpunkt zu setzen, denn man braucht eine kritische Masse an Diversität, um Verhaltensweisen in der Praxis zu verändern. Die nächste Stufe ist Inklusionstraining, von da aus kann man die nächsten Schritte setzen. Und man muss als CEO ein Vorbild sein für inklusives, empathisches Verhalten. Die Tage der CEOs, die wie absolute Herrscher regierten, sind vorbei.
Indra Nooyi war zwischen 2006 und 2018 CEO von PepsiCo. Damit war sie eine der ersten Frauen und eine der ersten Einwanderinnen erster Generation, die ein Unternehmen der "Fortune 500" leitet. Sie gilt als eine der mächtigsten Frauen der Welt. 2021 erschien ihr Buch My Life in Full, das gleichzeitig ihre Lebensgeschichte erzählt und ein Aufruf ist. Dort schildert sie anhand eigener Erfahrungen, was alles möglich ist, wenn Unternehmen familienfreundlicher werden.
Sie schreiben, dass Sie an viele Tage "mit großer Traurigkeit" zurückdenken, weil Ihr Familienleben darunter litt, dass Sie so viel Zeit in Ihre Karriere investierten.
Ich ticke ganz einfach so: Wenn ich ein Problem sehe, knie ich mich mit vollem Einsatz hinein. Wenn ich einen Teil dazu beitragen kann, es zu lösen, dann mache ich es, ohne zu fragen. Es hat nichts damit zu tun, dass ich gerne an erster Stelle stehe oder etwas beweisen möchte. Ich strebe nicht nach Anerkennung. Das führte auch dazu, dass man die ganze Zeit über diese Probleme nachdenkt. Sonst ist man nicht vollständig bei der Sache. Ich habe fast immer die Interessen des Unternehmens über meine Interessen gestellt. Selbst heute, im Ruhestand, verhalte ich mich so. Frisst das viel Zeit? Ja. Darum: Ja, ich denke manchmal mit großer Traurigkeit an diese Tage zurück und überlege, warum ich so ticke. Aber erst neulich hat mir jemand gesagt: Man ist einfach so, wie man ist.
Bedauern Sie heute etwas?
Am meisten bedauere ich, dass es die heutigen Kommunikationstechnologien nicht zu der Zeit gegeben hat, als ich CEO war. Dann hätte ich nicht so viel reisen müssen.
Tatsächlich können heute viele Menschen flexibler arbeiten. Aber es gibt noch immer viele Berufe, die sich nicht von zu Hause aus ausüben lassen. Schaffen wir damit eine Zweiklassen-Gesellschaft?
Wir müssen beiden Gruppen mit viel Fürsorge und Gespür begegnen. Es ist an der Zeit anzuerkennen, dass bestimmte Berufsgruppen uns allen unseren Lebensstandard ermöglichen. Dabei gibt es einen ganz entscheidenden Punkt: Die Jobs, bei denen es besonders auf diesen menschlichen Faktor ankommt, werden hauptsächlich von Frauen ausgeübt – von Krankenschwestern, Erzieherinnen, Lehrerinnen. Wenn es uns nicht gelingt, eine Infrastruktur für sie aufzubauen, werden mehr von ihnen unter psychischen Belastungen leiden. Diese Menschen haben familiäre Verantwortung. Wir müssen uns darum Gedanken über unsere Fürsorgepflicht machen: Was für eine Infrastruktur brauchen sie für ihre Familien? Wie viel bezahlen wir ihnen? Wir müssen uns darüber im Klaren sein: Die Produktivitätsgewinne der letzten Jahre beruhen fast ausschließlich auf Automatisierung und Gehaltskürzungen. Für einfache Arbeiter hat es in den vergangenen zwei Jahren wenig Fortschritte gegeben. Wir müssen darüber nachdenken, was wir ihnen anbieten können. Sollen wir Betreuungseinrichtungen an der Arbeitsstätte einrichten oder nahe an ihrem Wohnort? Gewähren wir genug bezahlten Urlaub? Wir müssen jungen Familien das Leben erleichtern.
Können sich Unternehmen auf diese Weise auch im "War for Talents" an die Spitze setzen?
Unternehmen haben die Pflicht, sich um ihre Gesellschaft zu kümmern. Ich glaube, der Kapitalismus muss sich an den Gedanken gewöhnen, dass wir das nicht einfach dem Staat überlassen können. Das bedeutet, dass sich Unternehmen neu ausrichten müssen. Alle schreien nur: "Hilfe, unsere Mitarbeiter wollen uns verlassen!" Mir geht es darum, wie wir sie zurückgewinnen. Dafür müssen wir eine Umgebung schaffen, in der jeder etwas beitragen kann. Wir müssen sicherstellen, dass Angehörige unterschiedlicher Geschlechter und ethnischer Gruppen die gleiche Bezahlung für die gleiche Arbeit erhalten. Wir dürfen nie eine Situation entstehen lassen, in der sich eine Gruppe marginalisiert oder ungerecht behandelt fühlt. Das ist sehr, sehr wichtig. Und wir müssen als Unternehmen und Manager einen Weg finden, zu signalisieren, dass Talent für uns das Einzige ist, was zählt.
Ihr Buch heißt My Life in Full. Aber Sie sagen, dass es darin nicht nur um Ihr Leben geht …
Ich habe nicht bloß meine Erinnerungen aufgeschrieben, sondern Unternehmen aufzeigen wollen, wie sich bezahlte Abwesenheit und mehr Flexibilität in der Arbeitswelt ermöglichen lassen. Ich hoffe, dass Menschen mein Buch nicht lesen, um mehr über eine interessante Persönlichkeit zu erfahren, sondern mehr darüber, wie wir unsere Gesellschaft voranbringen können: Welche Konsequenzen müssen wir ziehen? Welche Veränderungen sind notwendig? Ich sage Menschen gern, dass sie das Buch als unser Buch ansehen sollen, nicht als mein Buch.