Warum Gesundheit ein Thema für Unternehmen ist

Think:Act Magazin “Das Leben Verbessern“
Warum Gesundheit ein Thema für Unternehmen ist

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Think:Act Magazine

München Office, Zentraleuropa
19. Oktober 2021

Das Ziel für die 2020er: Individuelle Zufriedenheit, Wohlbefinden im Job, ein gesundes langes Leben

Cover story

von Steffan Heuer
Fotos von Robert Rieger

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Bitte lächeln. Trotz einer globalen Pandemie gibt es Grund zur Zuversicht. Die Krise hat sogar viele positive Entwicklungen massiv beschleunigt. Konkurrierende Firmen gingen Partnerschaften ein, um im Rekordtempo Impfstoffe zu entwickeln. Neue Technologien sind dabei, Wissenslücken zu schließen. Künstliche Intelligenz kann Krankheiten diagnostizieren, die sonst unerkannt geblieben wären. Arbeitgeber interessieren sich zunehmend für die psychische Gesundheit ihrer Mitarbeiter. Und durch neue Ansätze im Gesundheitswesen könnte es gelingen, dass wir älter werden und dabei gesund bleiben. Alles in allem: Es passieren viele Dinge, die das Leben verbessern.

Nahaufnahme, die die Augenpartie und die Nase eines Kindes zeigt. (c) Robert Rieger
Bitte lächeln: Denken Sie positiv, denn Zufriedenheit ist ansteckend.

Individuelle Zufriedenheit

Frage, wie wir Gefühle wahrnehmen und mit ihnen umgehen, ist mittlerweile im Mainstream angekommen. Die Daten, die verschiedene Rankings und Glücksindizes ermitteln, könnten die Grundlage dafür sein, das Leben positiver zu betrachten.

Wie fühlen sie sich? Was wäre ein besserer Zeitpunkt, Menschen diese Frage zu stellen, als während einer globalen Pandemie? Und die Antwort macht Mut, folgt man der Schlussfolgerung des jüngsten "World Happiness Report" der UN, der im März 2021 erschien: „Es gibt eine überraschende Beständigkeit darin, wie Menschen ihr Leben als Ganzes bewerten." Sorgen wegen Covid-19 haben die bestehenden Rankings nicht verändert; die Länder der Nordhalbkugel mit ihren stabilen Sozialsystemen besetzen weiterhin die Topränge.

Ob wir individuell zufrieden sind, hängt offenbar von anderen Faktoren ab als von solchen zwar weitreichenden, aber doch vorübergehenden Erschütterungen unseres Alltags. Der Umstand, dass selbst globale Institutionen wie die UN, die OSZE oder die Europäische Union regelmäßig Erhebungen über das emotionale Wohlbefinden der Menschen durchführen, zeigt: Persönliche Zufriedenheit, gar persönliches Glück ist nicht mehr nur ein schwammig definierter Begriff aus dem Vokabular von Selbsthilfegruppen, sondern ein Mainstream-Thema.

"Wir haben einen natürlichen Drang zu Dingen, die uns Freude bereiten. Aber auch dazu, überall Probleme zu sehen."

Tal Ben-Shahar

AUTOR UND DOZENT

Tal Ben-Shahar wurde durch seine Psychologiekurse an der Harvard University und durch zahlreiche Bücher als "Glücksprofessor" bekannt. Negativität sei die menschliche Grundstimmung, sagt er, aber das lasse sich ändern. "Wir haben einen natürlichen Drang zu Dingen, die uns Freude bereiten, und dazu, Schmerz zu vermeiden. Aber auch dazu, überall Probleme zu sehen." Die Ursache dafür stamme aus der Urzeit der Menschheit: "Als wir noch jagten und gejagt wurden, hatten Pessimisten bessere Überlebenschancen."

In seiner "Happiness Studies Academy" ermutigt Ben-Shahar Menschen dazu, sich auf das zu konzentrieren, was in ihrem Leben gut funktioniert, um dadurch positive Gefühle aufzubauen. "Gefühle und Glück sind ansteckend. Sie machen uns großzügiger und liebevoller." Ein "ganzheitliches emotionales Wohlbefinden" basiert laut Wissenschaftlern auf Wohlbefinden in fünf Bereichen: Geist, Physis, Intellekt, Beziehung und Gefühle.

„Glück hängt nicht vom Kontostand oder unserem gesellschaftlichen Status ab", sagt Ben-Shahar. „Der entscheidendste Faktor ist die Zeit, die wir mit Menschen verbringen, für die wir wichtig sind und die uns wichtig sind." Zeit für sich zu haben, einen freundlichen Umgangston mit anderen zu pflegen und Dankbarkeit zu zeigen.

Zahlreiche Staaten haben diese Idee übernommen und erklärt, dass sie jenseits des BIP Anstrengungen für das Wohlbefinden ihrer Bevölkerung unternehmen werden, mit einem Schwerpunkt auf jungen Menschen. "Die Glücksbewegung ist im Grunde eine Erweiterung der Nachhaltigkeitsbewegung", sagt Laura Musikanski, Direktorin von Happiness Allicance, einer Non-Profit-Organisation, die globale Daten zu dem Thema erhebt. "Glück kann man messen", sagt sie, "und wir sind dabei, Methoden zu entwickeln, wie man diese Daten in verschiedenen Kontexten nutzen kann, von Politik über Wirtschaft bis hin zu unserem Privatleben."

Ein Beispiel dafür ist Neuseeland, das inzwischen zum dritten Mal ein Budget für "Wellbeing" bereitstellt. Finnland, Island, Schottland und Kanada haben ähnliche Schritte eingeleitet. Ökonomen und Politikern ist bewusst geworden, dass wirtschaftliche Indizes und das individuelle Wohlbefinden eng miteinander verknüpft sind. Zunehmend nimmt die Wirtschaft zur Kenntnis, dass ein Teil ihrer Rolle ist, die Zufriedenheit der Menschen zu steigern. „Die entscheidenden Komponenten sind ein sicherer Job, ein stetiges Einkommen und die Frage, ob man sich in den wichtigen Orten der Heimatgemeinde sicher fühlt", sagt Musikanski.

Bleibt die Frage, welche Aussagekraft Rankings haben und wie sich menschliche Gefühle am besten messen lassen. Daten, die bei Telefon- oder Online-Umfragen erhoben würden, seien unzulänglich, sagt Musikanski. Dafür seien die Gruppen oft nicht repräsentativ genug. Eine wahre Fundgrube liefern Wearables, die fast alle Bereiche unseres Lebens messen, von den zurückgelegten Schritten bis hin zur Tiefe unseres Schlafs. Tatsächlich seien diese Daten durchaus hilfreich, sagt John Havens, Autor von Büchern wie Hacking Happiness und Heartificial Intelligence. Aber nur dann, wenn die erhobenen Werte nicht ausschließlich dafür eingesetzt würden, wirtschaftlichen Erfolg zu verbessern, sagt Havens: „Individuelles Glück muss darüber definiert werden, wie achtsam man sich gegenüber anderen Menschen, dem Planeten oder höheren Zwecken verhält."

Foto eines Kindes und eines Mannes, die Rücken an Rücken lehnen und einen zufriedenen Eindruck machen. (c) Robert Rieger
Unterstützung: Unternehmen sollten ihre Mitarbeiter bei allem, was sie tun, in den Mittelpunkt stellen.

Wohlbefinden am Arbeitsplatz

Unternehmen führen weiter, was im Privaten beginnt, indem sie das Wohl ihrer Mitarbeiter in den Mittelpunkt stellen. Das ist die Idee von "Organizational Well-Being". Firmen, die dies nicht umsetzen, werden in Zukunft Schwierigkeiten haben, Mitarbeiter zu finden.

"Sämtliche Risikofaktoren für Depressionen und Stress haben durch die Pandemie zugenommen."

Jeffrey Pfeffer

AUTOR
Dying for a Paycheck

In seinem Buch Dying for a Paycheck stellte der Wirtschaftswissenschaftler Jeffrey Pfeffer 2018 den heutigen Arbeitgebern ein schlechtes Zeugnis aus. Durch fahrlässige Vernachlässigung physischen und psychischen Wohlbefindens von Menschen in Bürojobs entstehe ein Gemisch, das im Wortsinn tödlich sein könne. Um Druck zu reduzieren, schlug Pfeffer eine mehrgleisige Herangehensweise vor: Jobsuchende sollten bei der Wahl von Arbeitgebern Stressfaktoren mit berücksichtigen, Arbeitgeber sollten sich verpflichten, die Kosten von schädlichen Management-Praktiken zu messen, und Regierungen verhindern, dass Unternehmen diese Kosten den staatlichen Gesundheitssystemen aufbürden.

Drei Jahre sind seitdem vergangen. Doch laut einer Studie der WHO aus diesem Jahr sterben noch immer 750.000 Menschen jährlich an Überarbeitung. „Ich glaube an Daten", sagt Pfeffer. „Und sämtliche Daten, die ich kenne, zeigen, dass sich die Situation durch die Pandemie verschlechtert hat. Alle Risikofaktoren für Depressionen und Stress haben zugenommen: ökonomische Unsicherheit, Entlassungen, die Belastung für Frauen, die Arbeitsleben und Familie vereinbaren müssen."

Das Wohlbefinden am Arbeitsplatz ist die logische Fortführung individuellen Wohlbefindens. Unter dem Schlagwort "Organizational Well-Being" ist es zu einem Thema geworden, mit dem sich immer mehr CEOs beschäftigen.

Alana Cookman vom Wellbeing Project, einer globalen Vereinigung für sozialen Wandel, definiert unternehmerische Gesundheit als "ständige Praxis von Unternehmen, ihre Mitarbeiter bei Aufbau und Handeln ihres Unternehmens in den Mittelpunkt zu stellen". Dazu gehören physische Sicherheit, freier Zugang zu Wachstums- und Entwicklungsmöglichkeiten, Wertschätzung von Fähigkeiten und Leistungen wie gerechte Löhne, Sozialleistungen und Fortbildungsmöglichkeiten.

Das bedeutet auch, Mitarbeitern die Chance zu geben, Entscheidungen zu beeinflussen, ihre Meinung einzubringen und Vertrauen aufzubauen und kreativ und kollaborativ zu sein – was oft dazu führt, dass sie innovativ sind.

Diese Vision steht im krassen Gegensatz zu der Realität in multinationalen Konzernen wie Amazon. Das Unternehmen steht wegen der Arbeitsbedingungen in seinen Warenlagern dauerhaft in der Kritik. Dort herrscht eine unglaubliche Fluktuationsquote von 150% im Jahr. Und das Unternehmen nutzt Algorithmen, um ein Ranking seiner Abteilungsleiter aufzustellen mit dem Ziel, jährlich 6% von ihnen auszutauschen. Dieser Prozess, der intern "erbarmungslose Zermürbung" genannt wird, erzeugt unnötigen Stress in der Belegschaft. Tatsächlich erklärte sogar Jeff Bezos kurz vor seinem Rücktritt als CEO von Amazon: „Wir brauchen eine bessere Vision davon, wie wir Werte für unsere Angestellten schaffen. Wir werden der beste Arbeitgeber werden und der sicherste Arbeitsplatz der Welt." Cookman gibt zu: Die Transformation dauert an, sie kann jederzeit abdriften oder an Tempo verlieren. Dennoch: „Eine der entscheidenden Voraussetzungen für Erfolg ist, dass Führungskräfte sich verpflichtet fühlen, Wohlbefinden zu einem Teil der Unternehmenskultur zu machen, und Präsenz zeigen. Das bedeutet nicht, dass alles reibungslos läuft. Es wird vorkommen, dass Menschen Widerstand leisten, es ihnen zu viel wird oder sie innerlich kündigen."

Cookman rät, bei der Umsetzung in kleinen Schritten vorzugehen. Es beginnt damit, genau zu verfolgen, wie lange Mitarbeiter im Unternehmen bleiben und wie viele Fälle von Burn-outs es gibt, und Experten zu engagieren, die dabei helfen, neue Bemessungsgrundlagen für Wohlbefinden, Work-Life-Balance und selbstbestimmtes Arbeiten zu entwickeln. Organizational Well-Being ist komplex. Kleine Veränderungen, die über viele Jahre hinweg implementiert werden, sorgen dafür, dass weder die Mitarbeiter noch die vorhandenen Ressourcen überlastet werden.

Die Krise hat zu Rückschlägen und Verzögerungen geführt. Andererseits sei durch sie "die dysfunktionale und ungerechte Praxis in Unternehmen sichtbarer geworden", meint Cookman. Sogar Pfeffer sieht Hoffnungsschimmer für einen Wandel: „Die neue Generation wird dies nicht hinnehmen. Junge Menschen werden nicht unter solchen Bedingungen arbeiten."

Profilfoto eines Kindes und eines Mannes, die einander in die Augen schauen und dabei lächeln. (c) Robert Rieger
Gemeinsam: Wenn wir die größten gesundheitlichen Herausforderungen lösen wollen, muss die Weltgemeinschaft zusammenarbeiten.

Heilung und Prävention

Wissenschaftliche Fortschritte haben in den vergangenen Jahrzehnten Millionen von Menschenleben gerettet. Doch der Erfolg hängt nicht nur von Technologien und Medikamenten ab, sondern auch davon, dass die Weltgemeinschaft zusammenhält.

Die Medizin hat in den vergangenen Jahrzehnten epochale Fortschritte erzielt. Die durchschnittliche Lebenserwartung der Menschen ist von 1920 bis 2020 um fast 30 Jahre gestiegen, vor allem dank wissenschaftlicher Fortschritte wie Impfstoffen, Antibiotika und der Biotechnologie. „Wir haben uns ein Extra-Leben gekauft", sagt der Wissenschaftsautor Steven Johnson. Ob Tetanus oder Polio: Die Menschheit hat Krankheiten, die einst Millionen von Opfern forderten, durch Impfstoffe in den Griff bekommen. 1980 erklärte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) die Pocken für ausgerottet – ein seltener vollständiger Sieg, der geschätzt weniger als 300 Millionen US-Dollar gekostet hat. Zählt man jüngere Erfolge hinzu, wie die antiviralen Medikamente gegen Hepatitis C, HIV und vielleicht bald auch Covid-19, wird klar, wie groß der Erfolg ist. „Das Leben heute ist in Hunderten von Aspekten besser als das in den 1940er- oder 1950er-Jahren", sagt der amerikanische Epidemiologe Larry Brilliant, der am Pockenprogramm der WHO mitarbeitete.

Als Beispiele nennt er Immuntherapien gegen Krebs, mRNA-Impfstoffe und Gen-Editierung mit der Technologie CRISPR. „Durch das Decodieren der Gene begreifen wir, wie sich unsere Gene und ihre Umgebung entwickelt haben und zusammenwirken. So können neue Therapien entstehen." Noch aber müssten "100 kleine Schlachten" geschlagen werden, sagt Brilliant: „Zugang zu sauberem Trinkwasser, gesunde Ernährung, Reduzierung der Kindbett- und Säuglingssterblichkeit."

Der schwindende Konsens der Weltgemeinschaft, diese Probleme gemeinsam anzugehen, treibt Brilliant besonders um. „Wir leben in einer zentrifugalen Periode, in der der Nationalismus fast jedes Land bis zu einem gewissen Punkt infiziert hat", sagt er. „Viele der Krankheiten, mit denen wir es zu tun haben, sind ein Nebeneffekt der Globalisierung, aber wir sind nicht dazu in der Lage, sie zu beseitigen." Wissenschaftler und Gesundheitsexperten haben während der jüngsten Pandemie Bedeutsames gelernt – etwa in Rekordzeit Viren zu sequenzieren und Impfstoffe zu entwickeln. Aber Laborerfolge allein sind nicht, was die Welt braucht, sagt Brilliant. Die Welt muss die Früchte des Fortschritts teilen, und das schnell. Das ermutigendste Beispiel für Solidarität im Angesicht einer unbekannten Gesundheitsgefährdung ist der WHO-Plan für "einen internationalen Vertrag für Pandemie-Vorbereitung und -maßnahmen", um eine robustere Gesundheitsökonomie aufzubauen.

Seltene Krankheiten

Auf der Welt existieren rund 7.000 "orphan diseases": Krankheiten, die oft falsch diagnostiziert werden und für die es kaum Behandlungsmöglichkeiten gibt. Neue Technologien und Datenaustausch sind ein Grund zu hoffen.

"In einer idealen Welt lebt man ein langes gesundes Leben und fällt dann tot um."

Mahtab Jafari

PROFESSORIN FÜR PHARMAWISSENSCHAFTEN
UC Irvine

Trotz aller Fortschritte der Wissenschaft: Noch immer gibt es zahlreiche Krankheiten, über die die Mediziner wenig wissen. Der weitaus größte Teil davon hat genetische Ursachen. Vom Alpha-1-Antitrypsin-Mangel bis hin zum Zori-Stalker-Williams-Syndrom: 7.000 dieser sogenannten seltenen Krankheiten – auf Englisch: orphan diseases – sind bekannt, über weniger als 1.000 davon gibt es minimale wissenschaftliche Erkenntnisse. Nur rund 400 können mit Medikamenten behandelt werden. Der Begriff "selten" ist allerdings irreführend: Tatsächlich leiden 25–30 Millionen US-Amerikaner und 27–36 Millionen EU-Bürger an einer dieser Krankheiten. Weltweit könnten es rund 400 Millionen sein.

Der Grund für ihre Vernachlässigung ist, dass die Pharmabranche nicht annähernd die finanziellen Anreize hatte, um Medikamente für solche Krankheiten zu entwickeln, wie es bei massenhaft verbreiteten Krankheiten der Fall ist. Die USA und die EU haben darum Programme aufgestellt, die die Entwicklung und Zulassung für die Behandlungen solcher Krankheiten zu unterstützen.

„Ein Patient erhält im Schnitt erst nach sechs oder acht Jahren und der Konsultation von fünf bis sieben Spezialisten eine Diagnose. Wenn man bedenkt, dass mehr als die Hälfte der Patienten Kinder sind und ein Drittel von ihnen vor dem Erreichen des fünften Lebensjahres stirbt, ist das faktisch mehr als eine ganze Lebensspanne", sagt Craig Martin, CEO von Global Genes. Die nichtkommerzielle Organisation mit Sitz in Kalifornien ist eine der wenigen auf der Welt, die versucht, Krankenhausärzte, Patienten, Forscher und Pharmakonzerne miteinander zu verbinden, damit sie Daten sammeln und teilen.

Die zunehmende Datenbasis der Biomedizinwissenschaften könnte helfen, die Situation zu verbessern. Der Aufstieg von Gen-Sequenzierung, Datenauswertung und personalisierter Medizin, kombiniert mit den Erfahrungen bei der Entwicklung der mRNA-Impfstoffe gegen Covid-19, ist ein Teil einer möglichen Lösung. Ein anderer, wenn der Rest der Welt eigene Medikamente zu bezahlbaren Preisen produzieren würde. Ein Beispiel dafür ist Indien, das schon heute die Hälfte der weltweiten Impfstoffe herstellt.

Ein gesundes langes Leben

Die Wissenschaft ist auf dem Weg, die Schäden zu reparieren, die unseren Körper altern lassen. Aber der physische Erhalt allein reicht nicht aus für ein Leben, das noch lebenswert ist:

Fruchtfliegen und Ringwürmer können länger leben. Mahtab Jafari, Professorin für Pharmawissenschaften an der University of California in Irvine, hat bewiesen, dass ein paar botanische Verbindungen in der Lage sind, die Lebenserwartung der Tiere von vier auf fünf Wochen zu verlängern. „Für einen Menschen wären das 10 bis 15 zusätzliche Jahre", sagt sie. „Fruchtfliegen sind ein sehr gutes Beispiel, weil sie 75% unserer Krankheitsgene teilen. Aber man kann nicht einfach die Ergebnisse auf Menschen übertragen. Denn es gibt noch zahlreiche weitere Faktoren, die für das Altern verantwortlich sind."

Jafari redet darum nicht von "Lebenserwartung", sondern von "Gesundheitserwartung" – die Zahl der gesunden Jahre im Leben eines Menschen. Denn während die Wissenschaft ziemlich erfolgreich darin war, unsere Lebenserwartung zu erhöhen, wurde wenig darauf geachtet, wie Menschen gesund altern können. Stattdessen nimmt die Zahl chronischer Erkrankungen zu – von Krebs und Herzerkrankungen bis hin zur Demenz.

Die Zahl der alten Menschen wird dramatisch wachsen. Das amerikanische Census Bureau, eine Art Volkszählungsbehörde, schätzt, dass im Jahr 2034 in den USA erstmals mehr Menschen leben werden, die 65 Jahre oder älter sind, als Menschen unter 18 Jahren. „In einer idealen Welt lebt man ein langes gesundes Leben und fällt dann tot um", sagt Jafari. Sie gründete das Center vor Healthspan Sciences in Irvine als einen virtuellen Cluster für multidisziplinäre Forschung und Öffentlichkeitsarbeit. „Wir müssen Menschen über die Bedeutung von Ernährung, Sport und psychischer Gesundheit aufklären. Sonst werden alle Nahrungsergänzungsmittel dieser Welt nichts an der Lebenserwartung ändern."

Die Frage, ob es natürliche Altersgrenzen gibt, ist umstritten Der älteste bekannte Mensch starb in Frankreich mit 122 Jahren, und die Zahl der über 100-Jährigen steigt kontinuierlich. Nach Schätzungen der UNO gab es 1990 weltweit rund 95.000 Menschen, die mehr als 100 Jahre alt waren. Im Jahr 2015 waren es 450.000. Bis zum Jahr 2100 können wir mit 25 Millionen rechnen.

Nahaufnahme von der Augenpartie und der Nase eines Mannes. (c) Robert Rieger
Denken in Gesundheitserwartung: Die gesunden Lebensjahre sind die, auf die es ankommt.

Wenn unsere Zellen altern, wird unsere biologische Maschine anfällig und die Nebeneffekte beinträchtigen die psychische und physischen Funktionen, erklärt Aubrey de Grey, biomedizinischer Gerontologe und Befürworter von verjüngender Biotechnologie. Der Chef-Wissenschaftler am SENS-Forschungszentrum mit Sitz in Kalifornien, will Schäden an der Wurzel beheben, "ohne die Notwendigkeit, das Tempo der Schädigung zu verringern oder den Körper schadensresistenter zu machen. Die wissenschaftlichen Mittel dafür sind da" sagt er. „Ab jetzt ist alles nur eine Frage der Technik."

Der Kernpunkt besteht darin, die Prozesse zu manipulieren, bei denen solche Zellen entfernt werden, die aufgehört haben sich zu teilen, ihre Funktionen verloren haben und das sie umgebende Gewebe beschädigen können. „Wir werden ein goldenes Zeitalter für alte Menschen erleben", sagt de Grey, "und wir haben ein gutes Jahrzehnt, um unsere Infrastruktur darauf vorzubereiten." Das aber beseitigt nicht das Problem vieler Senioren, die sich gebrechlich und vor allem einsam fühlen. Der niederländische Entrepreneur und frühere Pfleger Jos de Blok gründete 2006 das Unternehmen Buurtzorg , um die ambulante Pflege zu verbessern. Heute existieren Filialen in mehr als 30 Ländern. In den Niederlanden ist die durch schnittliche Zahl von Pflegestunden pro Einwohner seit 2014 von 168 auf 84 gesunken. Bloks Statistiken zeigen, dass Menschen weniger professionelle Hilfe benötigen, wenn sie in ein Netzwerk aus Freunden, Familie und Kümmerern eingebunden sind.

Derzeit erweitert das Unternehmen seinen Schwerpunkt um kollektive Prävention durch Mobilität, Ernährung und eine gesunde Lebensweise. In Testreihen versucht das Unternehmen, chronisch kranke Menschen in ihrer Nachbarschaft zu verankern und Aktivitäten wie Spaziergruppen zu organisieren. De Blok ist überzeugt: Durch Telemedizin und andere digitale Fortschritte kann die Hälfte von dem, was heutzutage in Krankenhäusern passiert, auch zu Hause geleistet werden. „Im Krankenhaus der Zukunft gibt es einen Pool an Experten, aber die Fachärzte und Krankenschwestern werden inner- und außerhalb der Mauern des Krankenhauses arbeiten", sagt de Blok. Er glaubt, dass dieses Modell sich im Laufe der nächsten fünf Jahre etablieren wird – und dabei sein Konzept als Vorbild dienen werde. „Der letzte Teil des Lebens wird oft der dritte Akt genannt", sagt de Blok. "Dieser Akt sollte von Lebensqualität handeln."

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Steffan Heuer
Steffan Heuer lebt in Berlin und Kalifornien. Seit mehr als zwei Jahrzehnten schreibt er über Technologie, Wirtschaft und Kultur des Silicon Valley, unter anderem für The Economist, die MIT Technology Review und brandeins.
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