Think:Act „Kunst und Wirtschaft“
Was die Wirtschaft von den Beatles lernen kann
Think:Act Magazine
Wie die Beatles eine neue Musik-Ära und ein perfektes Geschäftsmodell erschufen
von Mark Espiner
Fotos von Philip James Griffiths / Magnum Photos / Agentur Focus
Mehr zum Thema “Kunst und Wissenschaft“
Weniger als ein Jahrzehnt machten sie Musik zusammen. Doch in dieser kurzen Zeit brachen die Beatles alle Rekorde und prägten eine Ära. Sie schrieben sich ins kulturelle Weltgedächtnis ein, ihr Erfolg ist bis heute beispiellos. Doch es geht nicht nur um Musik: Die Beatles bieten wertvolle Lektionen für Führungskräfte.
One, two, three, FOUR!
„Als John und ich Anfang 20 waren", erzählt mir Paul McCartney im Gespräch darüber, wie die Beatles ihre unverwechselbare Musik schufen, „hörten wir, dass die Pharaonen im alten Ägypten eigene Schreiber hatten.“ Die Erinnerung daran lässt ihn lebhaft werden. „Wir dachten: Lasst uns wie die Pharaonen sein“, sagt er mit triumphierender Stimme. McCartney wollte nie lernen, wie man Noten schreibt. Die erfolgreichste Band des 20. Jahrhunderts machte stattdessen Musik, indem sie einfach gemeinschaftlich etwas kreierte, ohne das System von Partitur und Notenschrift.
Ein Rezept, das funktionierte: Lennon und McCartney schrieben in ihren acht kurzen Beatles Jahren fast 300 Songs. Sie produzierten 13 Alben, die sich millionenfach verkauften, und landeten 20 Nummer einsHits. Dabei war der kreative Prozess, der die Beatles erfolgreich machte, bis vor Kurzem ein Mysterium, sieht man von dem schlecht gemachten Dokumentarfilm Let It Be ab. Der Streifen, 1970 nach der Auflösung der Band veröffentlicht, zeigt die scheinbare kommunikative Eiszeit der vier Musiker. So weit die lange vorherrschende Meinung. Doch die Wahrheit sieht anders aus.
Als der Oscarprämierte Herr der Ringe Regisseur Peter Jackson gebeten wird, einen neuen Beatles Film zu drehen, und 2017 Zugang zu den Originalaufnahmen vom Januar 1969 erhält, entwickelt sich eine ganz andere Geschichte. Beim Sichten von 60 Stunden Filmmaterial sieht Jackson keine zerstrittenen Bandmitglieder, er entdeckt fröhliche Kreativität und lebendiges Musizieren, er sieht Ehrgeiz, Risikobereitschaft und eine schöpferische Vision. Die dreiteilige Film Serie Get Back beleuchtet die Arbeitsweise der Band auf faszinierende Art.
Acht Jahre an der Spitze der Charts und Jahrzehnte voller Erfolg hinterlassen ein inspirierendes Vermächtnis, auch für Wirtschaftsführer. Vom ersten zaghaften Herantasten an die ersten Aufnahmen im Studio bis zum finalen Gerichtsverfahren, das ihre Trennung besiegelt: Die Beatles zeigen, wie ein Weltklasse Team Hindernisse überwindet und sich zugleich instinktiv auf den Erfolg konzentriert. Kurz gesagt: Die Beatles Story bietet uns jede Menge lehrreiche Lektionen in puncto Managementstil, Produktivität und Innovation.
Get back to where you once belonged … (und vergessen Sie nicht, warum Sie das tun)
Als die Techniker am 3. Januar 1969 in den Twickenham Film Studios, wo die Band bei den Proben für Let It Be gefilmt wird, das Set aufbauen, hat George Harrison eine Idee: Der Gitarrist schlägt vor, alles so aufzubauen wie damals im Top Ten Club in Hamburg. Es ist nur eine kurze Bemerkung, aber sie weist auf die Wurzeln der Band. Denn Hamburg war der Ort, wo die Band ihren eigenen Sound entwickelte und ihr Können perfektionierte.
John Lennon schilderte seinem Biografen Hunter Davies, wie die Beatles vor ihrer Hamburger Zeit Konzerte gaben: oft nicht mehr als eine Stunde, wie in Liverpool, wo sie einfach nur ihre besten Nummern runterspielten. Hamburg war anders, hier standen die Beatles manchmal acht Stunden auf der Bühne. „Wir wurden immer besser und selbstbewusster, irgendwann spielten wir einfach die ganze Nacht durch“, erinnert sich Lennon. Malcolm Gladwells Bestseller Outliers schildert Hamburg als jenen Zeitabschnitt, in dem die Beatles ihre entscheidenden 10.000 Übungsstunden hatten. Zwischen 1960 und 1962 waren die Beatles insgesamt fünfmal in Hamburg. Auf ihrer ersten Tour spielten sie an 106 Abenden fünf oder mehr Stunden am Stück.
Harrisons Wunsch, mit dem Umbau der Bühne an die Hamburger Nächte anzuknüpfen, sagt etwas über den Wunsch aus, zu den Wurzeln der Band zurückzukehren. Und dieser Wunsch zeigt sich öfter: Während der Let It Be-Sessions kehren die Beatles immer wieder zu den Songs aus ihrer Hamburger Zeit zurück. Sie spielen ihre alten Rock'n'Roll-Standards, die sie damals Nacht für Nacht wach hielten. Beim Versuch, die rohe Energie der Hamburger Ära einzufangen, entstaubt die Band den bis dahin unveröffentlichten Song One After 909. Als sie den Titel in dem Film spielen, kann man den Beatles gut dabei zusehen, wie sie sich in ihre Hamburger Jahre zurückspielen. Schließlich spielen sie One After 909 auf dem Dach des Aufnahmestudios – ihre jugendliche Vitalität verbindet sich mit ihrem letzten reifen Auftritt.
Help! I need somebody … (warum wir alle Hilfe brauchen)
Auch wenn die Techniker in Let it Be nicht sofort auf Harrisons Vorschlag eingehen, die Bühne des Hamburger Nachtclubs nachzubauen, so sind sie doch entscheidend für den reibungslosen Ablauf der kreativen Prozesse. Sie tragen dazu bei, dass die Beatles sich wohlfühlen und kreativ arbeiten können.
Die Anwesenheit der Roadies Mal Evans und Kevin Harrington ist in den Aufnahmen jederzeit spürbar. Ihre Unterstützung ist auf den ersten Blick nicht offensichtlich, aber sie reagieren auf jeden Wunsch der Bandmitglieder und schmieren die Rädchen der Kreativmaschine. Harrington ist beispielsweise oft zu sehen, wie er der Band Tee und Toast, Sandwiches und Orangensaft bringt. Die Flüssigkeits und Kalorienzufuhr hält nicht nur das kreative Handeln in Schwung, die kurzen Getränke oder Essenspausen schaffen auch Raum für neue Ideen. Denn: Pausen vergrößern die Wahrscheinlichkeit eines kreativen Durchbruchs.
An anderer Stelle erfüllt der Roadie Evans McCartneys frühen Wunsch, es dem Pharao gleichzutun: Er notiert Texte, die der Sänger ihm diktiert, auf seinem Klemmbrett und tippt sie anschließend sauber ab. Und als McCartney einmal nebenbei erwähnt, für die Soundeffekte in seinem neuen Song „Maxwell's Silver Hammer“ wären ein echter Hammer und Amboss ideal, taucht beides wie von Zauberhand kurze Zeit später am Set auf. Genau diese Art von Einfühlungsvermögen und rascher Reaktion hält den kreativen Fluss in Gang. Und auch wenn Unterstützung in Form von Toast und Marmelade trivial wirken mag – in Wirklichkeit ist sie essenziell.
… Help! Not just anybody … (oder warum es wichtig ist, Talente zu fördern)
Unterstützung während der Let It BeSessions manifestiert sich auf unterschiedliche Weise. Get Back zeigt die Rolle von zwei Musikproduzenten bei der Arbeit: George Martin, der alle Werke der Beatles produziert hat, ist dabei, tritt aber hinter dem jüngeren Produzenten Glyn Johns zurück. Der ist bei Let It Be federführend. Beide sind mit im Proberaum, hören sich die Musik an und machen Verbesserungsvorschläge. Sie stehen an den Aufnahmegeräten und sind bereit, den Aufnahmeknopf zu drücken, wenn die Beatles bereit sind. Und sie nehmen auch auf, wenn die Band nichts davon ahnt, um kein musikalisches Juwel zu verpassen.
Die Rolle des talentierten Produzenten ist von Beginn an Teil der BeatlesErfolgsstory. McCartney weiß die Rolle des Produzenten durchaus zu würdigen. Aber er erklärt mir auch sogleich, woher die eigentlichen Ideen kommen: „Die Rolle des Produzenten besteht nicht unbedingt darin, uns zu inspirieren.“ Vielmehr bringe die überwachende Funktion des Produzenten die Kreativität der Gruppe zur Entfaltung. McCartney erinnert sich daran, dass George Martin bei der Royal Navy war, bevor er Produzent wurde. Er fragt ihn nach seiner Aufgabe dort. Martin war Beobachter. McCartney entgegnet: „Du hast nicht navigiert und auch nicht das Flugzeug geflogen.“ Martin bestätigt das. Daraufhin ich: „Du hast also nicht dieses oder jenes gemacht, sondern du hast beobachtet.“ McCartneys Fazit: „Das ist genau das, was ein Produzent tut: Er steuert das Flugzeug nicht, aber er ist der Verantwortliche. Einen besseren Produzenten als George Martin konnten die Beatles im ganzen Universum nicht finden.“
With a little help from my friends … (für Teamarbeit und Schwarmintelligenz)
Nach ihrer Trennung knüpfte keiner der Beatles als Solo-Künstler an frühere Erfolge an. Jeder hatte zwar eigene Hits, aber nichts davon war annähernd so erfolgreich wie die Band. Ihr Beispiel scheint die Regel zu bestätigen: Ein gutes Team ist mehr als die Summe seiner Teile. In Let It Be werden die Risse in der besonderen Beziehung der Band sichtbar, nur wenige Tage nach den Proben folgte die Trennung. Um einen solchen Konflikt zu lösen, wären besondere interne Prozesse notwendig – und über Jahre hinweg aufgebaute Bindungen. Aber es drängt sich noch eine Frage auf: Ist eine Gruppe von so herausragenden Talenten wie bei den Beatles nicht ungeheuer schwer zu managen?
Anita Williams Woolley, Professorin an der Carnegie Mellon Tepper School of Business, hat beobachtet, dass es in Sportteams mitunter „zu viele Stars“ gibt. Talente der einzelnen Spieler würden dann dazu genutzt, um herauszufinden, wer der Anführer ist. Oder zwei sehr talentierte Menschen kämpfen um die Führung. Auf John Lennon und Paul McCartney scheine das zwar nicht zuzutreffen, aber mit George Harrison und in geringerem Maße auch mit Ringo Starr habe ein Problem entstehen können, meint Woolley. Sie schlägt vor, wechselseitige Abhängigkeiten bei der Arbeit zu verringern, damit Hahnenkämpfe nicht den kreativen Schaffensprozess stören. Die Beatles scheinen das instinktiv zu tun. Jeder von ihnen arbeitet erst einmal für sich an eigenen Songs, bevor er sie mit der Gruppe teilt. So reduziert man mögliche Konflikte.
Woolley regt an, Teams gelegentlich wachzurütteln. Zum Beispiel durch die Hinzunahme externer Leute, die mehr Produktivität in eine Gruppe bringen können. Ein neuer Denkansatz von außen verbessert oft die Zusammenarbeit. Sind ausschließlich Männer im Team? Weibliche Präsenz kann nach Woolleys Beobachtungen eine andere Gruppendynamik entfalten. „Die soziale Wahrnehmungsfähigkeit – eine spezifische Fähigkeit sozialer Intelligenz – ist eine weibliche Stärke. Das scheint mir ein wichtiger Grund für mehr Frauen in Gruppen zu sein. Frauen machen alle, auch Männer, empfänglicher für verbale und nonverbale Hinweise darauf, was andere denken und fühlen.“ Sowohl Männer als auch Frauen benehmen sich in gleichgeschlechtlichen Gruppen anders, üblicherweise schlechter, hat Woolley beobachtet. „Es reicht schon ein Gruppenmitglied vom anderen Geschlecht, um das zu ändern.“
Beides scheint bei den Beatles in Get Back eine wichtige Rolle zu spielen, wenn auch nur unbewusst. Lennons Partnerin Yoko Ono strahlt bei den Dreharbeiten eine freundliche weibliche Präsenz aus und verändert die Gruppendynamik der Band vermutlich zum Besseren. Der schwarze Keyboarder Billy Preston, der schon in Hamburg mit auf der Bühne stand und quasi als der fünfte Beatle eingeladen wird, sorgt nicht nur für einen unmittelbaren Zugang zur gemeinsamen Vergangenheit, sondern bringt eine Vielfalt mit, die es vorher nicht gab. Die Stimmung im Raum verändert sich durch seinen Beitrag merklich, sichtbar und hörbar.
I’ve got a feeling … (einige Beatles-Lektionen in Sachen Produktivität)
Das Erstaunlichste und vielleicht Nützlichste an den acht Stunden, denen man den Beatles in Get Back bei der Arbeit zusehen kann, sind die darin enthaltenen Lektionen. Die Gruppe zeigt eine Reihe von Techniken, die Kreativität freisetzen.
Zum einen wechselt die Band von einem Song zum nächsten, um sich warm zu spielen. Man sieht, wie sie in schneller Abfolge neue Songtexte und Ideen ausprobiert. Als McCartney einige Minuten feststeckt und scheinbar ausweglos nach Ideen sucht, erweckt er den alten Song Get Back zu neuem Leben. Der Zaubertrick funktioniert: Das Energielevel bleibt hoch, Konzentration und Tempo ebenso. Im Gegensatz zu dieser Tempo-Methode lässt sich die Band an anderer Stelle ewig viel Zeit für einen neuen Song. Als Lennon und McCartney an Don't Let Me Down arbeiten, Ideen ausprobieren und sich die Bälle hin und her spielen, wirft Harrison plötzlich ein: „Ich finde das echt furchtbar.“ Die Reaktion der beiden anderen Musiker kommt prompt: „Lass dir was Besseres einfallen!“
Für neue Inspiration halten die Beatles stets die Augen offen. Sie lesen Zeitungen, um Material für ihre Songtexte zu finden. Sie überlegen, was ein Gebäude ihnen als Konzertort zu bieten hat. So entsteht auch die Idee zu ihrem Rooftop Concert, ihrem letzten Live Auftritt 1969 in der City of Westminster. Als die Zeit bei den Studioaufnahmen knapp wird, dringt McCartney auf Ordnung und Struktur. „Wir können nicht ewig so weitermachen“, sagt er. „Wir brauchen ein strukturiertes Arbeitsprogramm, einen Zeitplan.“ Lennons Reaktion ist harsch: „Es ist unmöglich, es dir recht zu machen, Paul.“ Aber sie schaffen es. In letzter Minute bauen sie eine klare Struktur auf und bringen ihre Ideen zu einem stimmigen Ganzen zusammen.
The long and winding road … (McCartneys Musikkarriere als Inspiration für Manager)
John Lennon mag es schwergefallen sein, Paul McCartneys Ehrgeiz zu entsprechen, aber Ringo Starr erkannte seine produktive Energie. „Wäre Paul nicht in der Band gewesen“, sagt er, „hätten wir wahrscheinlich nicht mehr als zwei Alben zustande gebracht.“ McCartney trieb die Band an. Schon vor den Beatles hatte er diesen Ehrgeiz, und sein Antrieb ist bis heute ungebrochen. Er machte weiter Musik und nahm drei Solo-Alben auf, alle Instrumente spielte er allein. McCartney trat in den meisten Ländern der Erde auf, dieses Jahr tourte er durch die USA und spielte eine Woche nach seinem 80. Geburtstag auf dem Glastonbury Festival.
McCartney war der De-facto-Manager der Beatles in der letzten Phase ihrer Karriere. Diese Rolle behagte ihm aber nicht, denn er wollte nicht der Boss sein. McCartneys Lebenswerk bleibt einzigartig, seine Arbeit unübertroffen – nicht nur kreativ, sondern auch finanziell: Er ist der erste Milliardär der Popgeschichte.
I saw a film today, oh boy … (warum Content King und Information Gold ist)
Peter Jacksons dreiteilige Doku-Epos Get Back zeigt in Zeitlupe die kreative Vision der Beatles in einem besonderen Moment ihrer Karriere. Aber die achtstündige Filmkomposition „Get Back“ ist auch selbst eine kreative Vision – und ein echtes Kunstwerk. Jackson hat sich beim Ausgangsmaterial von dem alten Film Let It Be bedient und daraus eine überzeugende Geschichte rekonstruiert. Zu Jacksons filmischen Epen gehört They Shall Not Grow Old, eine Dokumentation über den Ersten Weltkrieg. Der Film hat eine ähnlich eindringliche Qualität, da er Tausende Quellen zu einem stimmigen Ganzen zusammenführt. Jacksons Zutaten für die faszinierende Beatles-Doku: Er zeigt kreative Arbeit unter unbarmherzigem Zeitdruck – und im Mittelpunkt eine Band, die kurz vor ihrer Implosion steht.
Anders als die Beatles, die ihre Musik aus sich herausströmen ließen, greift Jackson auf Vorhandenes zurück. Er arbeitet mit dem Material, das der Regisseur Michael Lindsay-Hogg 1969 gefilmt hat. Ohne die Akribie und den Ehrgeiz von Lindsay-Hogg gäbe es die epische Erzählung Jacksons nicht. Während der Proben nutzte Lindsay-Hogg mehrere Kameras, die drei Wochen lang fast ohne Unterbrechung filmten. Am Ende entstand daraus ein Film, der von kurzfristigen Deadlines vorangetrieben wurde, selbst aber zum Beispiel für Kreativität in Langform geriet. Ohne das stundenlange Filmmaterial könnten wir den kreativen Prozess nicht hautnah miterleben. Und wir würden auch nicht mitgerissen werden, wenn sich alle Qualen und Streitereien schließlich auflösen und in dem legendären Londoner Rooftop Concert einen grandiosen Abschluss finden.