Wenn es um Leben und Tod geht

Think:Act Magazin “Das Unbekannte”
Wenn es um Leben und Tod geht

Portrait of Think:Act Magazine

Think:Act Magazine

München Office, Zentraleuropa
30. August 2021

Wie man in Extremsituationen schnell Entscheidungen fällen kann

Artikel

von Bennett Voyles
Fotos von Wolf Heider-Sawall, Francesco Guidicini, Robert Markowitz, Tina Krohn

Mehr zum Thema "Das Unbekannte"

Es geht um das Leben und Tod. Die Zeit drängt. Wie trifft man in diesem Moment die richtige Entscheidung? Vier Profis schildern, wie sie für Situationne planen, die man nicht planen kann.

Irgendwann könnte eine Pandemie ausbrechen. In der Theorie war uns das klar. Aber als dieses Szenario Realität wurde, mussten Manager und Unternehmer wichtige Entscheidungen über Mitarbeiter, Kunden und Geschäftsmodelle treffen, auf die sie nicht vorbereitet waren. Was passiert war, war nichts Unbekanntes, sondern etwas Unvorhergesehenes. Und es erforderte sofortiges Handeln. Für einige Menschen gehören solche Entscheidungen unter extremen Bedingungen zum Alltag. Was können wir von ihnen lernen? Wir haben eine Bergsteigerin, einen Neurochirurgen, einen Astronauten und einen Geheimdienstler gefragt, wie man einen kühlen Kopf bewahrt, wenn man Entscheidungen treffen muss, die sogar über Leben und Tod entscheiden können.

Gerlinde Kaltenbrunner, Bergsteigerin

Die Bergsteigerin Gerlinde Kaltenbrunner, stehend mit gekreuzten Armen. (c) Wolf Heider-Sawall/laif

Alter: 50
Erfahrungswert: Die Ausbildung zur Krankenschwester hilft ihr dabei, besser mit der Vergänglichkeit des Lebens zurechtzukommen.
Innere Kraft: Meditation und Visualisierung sind Teil von Kaltenbrunners täglicher Routine. "Das hilft mir dabei, auch in scheinbar hoffnungslosen Situationen die Ruhe zu bewahren und die bestmögliche Entscheidung zu treffen."

Die Österreicherin bezwang als erste Frau alle 8.000er-Gipfel des Himalaya und des Karakorum ohne künstlichen Sauerstoff. Jedem einzelnen Schritt auf den Berg gehen lange Vorbereitungen voraus.

Plane gründlich. Aber vertraue im Zweifel deinem Bauchgefühl

Kaltenbrunner investiert viel Zeit und Energie, um ihre Touren möglichst detailliert zu planen. "Es ist extrem wichtig, alle Szenarien durchzugehen, die beim Weg zum Gipfel auftreten könnten", sagt sie. Dennoch ändert sie umgehend ihren Plan, wenn sich die Bedingungen verändern. "In solchen Fällen habe ich immer meinem Bauchgefühl vertraut. Über die Jahre ist es deutlicher und definierter geworden. Ich weiß, dass ich mich darauf verlassen kann."

Habe Geduld

"Bei starkem Wind und starkem Schneefall klettern wir wegen der großen Lawinengefahr nicht", sagt Kaltenbrunner. "Dann warten wir, bis das Wetter besser wird, manchmal für Tage oder gar Wochen. Aber am Ende folgt die Belohnung in Form von schönem Wetter und guten Kletterbedingungen. Hochalpines Bergsteigen lehrt einen, das Tempo herunterzufahren und geduldig zu sein.

Sei zuversichtlich

Bei Kaltenbrunners erstem Versuch, den K2 zu besteigen, starb ihr Teamkollege Fredrik Ericsson. Dennoch entschied sie sich dazu, den Aufstieg erneut zu versuchen. "Ich bin davon überzeugt, dass das Leben sich nicht gegen uns richtet, sondern zu uns steht. Und dass wir nicht zurückschauen sollten, sondern nach vorn", sagt sie. "Ich habe mich bewusst dazu entschieden, dem Leben wieder zu trauen."

Henry Marsh, Neurochirurg

Der Neurochirurg Henry Marsh sitzt leicht nach vorn gebeugt und fasst sich mit seiner rechten Hand an seinen linken Arm. (c) Francesco Guidicini/The Sunday Times

Alter: 71
Autor von: Um Leben und Tod, Admissions
Gesprächspartner: Er war Pionier des Operierens unter lokaler Betäubung, bei dem Patienten während des Prozesses bei Bewusstsein bleiben und ansprechbar sind.
Medienpräsenz: Er ist Protagonist der BBC-Dokumentationen Your Life in Their Hands and The English Surgeon.

Henry Marsh hat Tausende Menschen am Gehirn operiert. Unzählige Male musste er entscheiden, ob und wo er einen Schnitt ansetzt – in dem Wissen, dass diese Entscheidung für seinen Patienten eine Behinderung oder den Tod bedeuten kann.

Glaub nicht, dass du die Antworten bereits kennst

"Wer zu selbstbewusst ist, kann Risiken falsch einschätzen. Es ist sehr leicht, die Risiken einer Operation unterzubewerten und die Risiken des Nichtoperierens überzubewerten. Um den Glauben an die eigene Allwissenheit zu überwinden – und das schafft man nie ganz –, ist der beste Weg, mit einem Kollegen zu diskutieren, der kritisch, aber auch sympathisch ist." Die gefährlichste Form von Selbstüberschätzung sei Voreingenommenheit, meint Marsh. Weil voreingenommene Menschen aus Daten nur Antworten herauslesen, die sie erwarten. "Es ist sehr schwer, diesen Irrtum zu korrigieren, weil man alle Anzeichen dafür, dass etwas schiefläuft, ausgehend von der ersten falschen Auslegung ebenfalls falsch interpretiert. So lange, bis es zu spät ist."

"Diskutieren Sie mit einem Kollegen, der kritisch ist, aber auch sympathisch."

Henry Marsh

NEUROCHIRURG

Bleib "frostig"

Die meisten Fehler passieren nach Marshs Erfahrung nicht während Operationen, sondern davor oder danach. Aber für den Fall, dass während der Operation etwas schiefgeht, sollten Neurochirurgen den Patienten und seine Familie vor der Operation darauf vorbereitet haben. "Und sie müssen Ruhe bewahren. Ein mit mir befreundeter Jetpilot nennt das 'frostig' bleiben. Das ist teilweise eine Frage der Persönlichkeit, aber auch von Training und Erfahrung."

Schieb deinen Stolz zur Seite

"Mit der Zeit hat man genug Erfahrung, um zu wissen, dass man das Problem normalerweise lösen wird. Fehlt einem diese Erfahrung, sollte man einen erfahrenen Kollegen um Hilfe bitten. Dafür muss man manchmal sein Ego und seinen Stolz überwinden. Ich sage angehenden Ärzten, dass es kein Zeichen von Schwäche ist, nach Hilfe zu fragen, sondern von Stärke."

Scott Kelly, Astronaut

Der Astronaut Scott Kelly steht in seinem Raumanzug und schließt seine Hände zusammen. (c) Robert Markowitz

Alter: 57
Autor von: Endurance, my Journey to the Stars
Rekordhalter: Kein Amerikaner war so lange durchgehend im All wie Kelly: Er verbrachte 340 Tage auf der ISS.
Zwillingsforschung: Kellys Zwillingsbruder Mark war früher ebenfalls Astronaut. Nach der ISS-Mission von Scott diente er als Vergleichsperson für eine Studie über die Folgen langer Aufenthalte im All.

520 Tage seines Lebens verbrachte Kelly im Weltraum, davon fast ein Jahr am Stück auf der Internationalen Raumstation ISS. Damit hielt der Amerikaner lange Zeit einen Rekord unter US-Astronauten.

Kümmere dich um dein Team

"Für mich bedeutet Führungsstärke und Teamwork, sich um den anderen zu kümmern. Dazu gehört es, Fragen zu stellen: Wie fühlst du dich? Wie läuft es zu Hause? Was macht die Familie?"

"Oft ist es sinnvoll, jemanden entscheiden zu lassen, der mehr von der Materie versteht als man selbst."

Scott Kelly

Astronaut

Konzentriere dich auf das, was du selbst kontrollieren kannst

Die Fähigkeit, sich unter Druck konzentrieren zu können, habe zumindest zum Teil damit zu tun, wie er aufwuchs, sagt Kelly: "Meine Eltern führten eine schwierige Beziehung, in meiner Kindheit erlebte ich viel Unruhe und Streitigkeiten. Ich glaube, das hat mich darin geschult, wie man mit Stress und Konflikten umgeht." Später trainierte er als Soldat das, was er die "Philosophie der Abschottung" nennt. Das Grundprinzip dahinter: "Es gibt Dinge, die wir unter Kontrolle haben, und andere Dinge, die wir nicht unter Kontrolle haben. Konzentriere deine Anstrengungen und deine Aufmerksamkeit auf das, was du kontrollieren kannst, und ignoriere alles andere. Das hilft dabei, in stressigen Situationen ruhig zu bleiben."

Geht's um Raketenwissenschaft, frag einen Raketenwissenschaftler

"Es gibt Situationen, in denen es sinnvoll ist, sich wie ein Diktator zu verhalten. Wenn es brennt, muss man Entscheidungen in Bruchteilen von Sekunden fällen", sagt Kelly. "Aber oft ist es sinnvoll, jemanden aus dem Team um Rat zu fragen oder entscheiden zu lassen, der mutmaßlich mehr von der Materie versteht als man selbst."

David Omand, ehemaliger Direktor des britischen Abhördienstes GCHQ

David Omand, ehemaliger Chef des britischen Abhördienstes GCHQ. (c) Tina Krohn

Alter: 73
Autor von: Principled Spying, How Spies Think
Digitaler Spion: Omand ist Co-Autor der Studie SOCMINT, die untersucht, wie sich soziale Medien für Geheimdienstzwecke nutzen lassen.
Moralist: Principled spying stellt einen "Ethikkodex für Geheimdienstoperationen" auf, angelehnt an die Lehre vom "gerechten Krieg".

Omand war an der Seite von britischen Premiers wie Margaret Thatcher und Tony Blair, als diese kritische militärische Entscheidungen treffen mussten.

"Vielleicht kann man die Krise nicht verhindern, aber man kann sie eindämmen."

Sir David Omand

EHEMALIGER DIREKTOR
GCHQ

Vorausschauendes Denken kann Schaden begrenzen

Omand unterscheidet zwei Arten von Krisen: die plötzlich eintretende und die schwelende. Die zweite ist die schwierigere Variante, sagt er: "Wenn eine Krise plötzlich eintritt, gibt es keine Alternative: Man muss handeln. Bei einer Krise, die noch schwelt, ist dies schwieriger, weil sie erst ab einem bestimmten Punkt ausbricht. Die Kunst des Krisenmanagements besteht darin, diesen Zeitpunkt zu erkennen, bevor er eintritt. Vielleicht kann man die Krise nicht verhindern, aber man kann sie eindämmen. Und darauf kann man sich vorbereiten."

Fakten allein sagen nichts aus

"Es bringt nicht viel, wenn man bloß eine Menge an Informationen zusammenträgt. Man muss sich Zeit nehmen, um Modelle möglicher Bedrohungen zu entwickeln. So weiß man im Vorfeld, welche Informationen nützlich sein werden, weil man sie in das Modell einfügen kann. Man muss sich trauen, Daten zu hinterfragen. Denn die Daten allein führen einen oft in die Irre."

Ernenne einen Advocatus Diaboli

"Machen Sie sich klar, dass Menschen, die eine wichtige Entscheidung fällen müssen, auf zwei Weisen denken: emotional und rational", sagt Omand. Erschwerend kommt für ihn hinzu, "dass heutzutage selbst in vermeintlich rationalen Analysen emotionaler Kram steckt. Die Fakten, auf denen wir unsere Annahmen aufbauen, sind nicht so belastbar, wie wir denken." Ein weiteres Problem ist Voreingenommenheit. "Damit führen wir uns selbst hinters Licht, sogar dann, wenn wir richtig gute Informationen haben", sagt Omand. Sein Rat: "Ernennen Sie einen Advocatus diaboli und sagen Sie ihm: Deine Aufgabe ist es, die nächste Stunde lang Lücken in meiner Argumentationskette zu finden."

Online Publikationen dieser Ausgabe
Mehr
Portrait of Think:Act Magazine

Think:Act Magazine

München Office, Zentraleuropa