Wie man auf eine Polykrise reagiert

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Wie man auf eine Polykrise reagiert

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München Office, Zentraleuropa
27. April 2023

Im Zeitalter der Polykrise brauchen wir besseres Multitasking

Artikel

von Steffan Heuer
Illustrationen von Filippo Fontana

Systemrisiken überall, die Welt wankt. Wie Experten Entscheidungsträgern einen Weg aus dem Zeitalter der Polykrise weisen wollen.

Eine kleine Auswahl aus den Herbst-Schlagzeilen 2022 illustriert, womit die Menschheit zurzeit zu kämpfen hat. Der Klimawandel lässt das Gespenst um­gehen, dass schmelzende Gletscher Viren freisetzen könnten, die die nächste Pandemie auslösen. Gleichzeitig hatten von den 193 Ländern, die sich auf dem Glasgower Klimagipfel 2021 verpflichtet hatten, mehr für den Klimaschutz zu leisten, ein Jahr später lediglich 26 Staaten wirklich etwas unternommen; manche von ihnen hatten sogar ihre Kohlekraftwerke reaktiviert. Außerdem stürzte der Ukrainekrieg geschätzte 70 Millionen Menschen in eine Nahrungsmittelkrise, zusätzlich zu den 765 Millionen, die schon im Vorjahr hungern mussten.

Willkommen im Zeitalter der Polykrise! Das neue Wort dient als Sammelbegriff für eine Welt, die durch mehrere systemische Risiken bedroht wird. Zu den oben skizzierten Bedrohungen kommen noch Ängste vor einem Atomkrieg, Massenmigration sowie scheinbar weiter entfernte Risiken wie unkontrollierte Künstliche Intelligenz oder Genmanipulation hinzu – ein düsterer Ausblick.

Eine Collage aus mehreren Illustrationen, meist in rosa, gelben und lila Farben, die im Pixel-Stil unter anderem einen Eisbären, einen Soldaten mit einem Maschinengewehr, Menschen, die in einem Labor arbeiten, eine Fledermaus mit umherschwirrenden Viren und einen Patienten in einem Krankenhausbett zeigen.
Dominoeffekt: Der Klimawandel erhöht das Risiko, dass es häufiger zu Pandemien kommt.

Der Begriff der polykrise ist zwar nicht neu, hat aber eine neue Dringlichkeit angenommen, seitdem Regierungen, Denkfabriken und Bürger versuchen zu verstehen, wie sie darauf reagieren sollten. Trotz vielfältiger Antworten besteht ein Konsens, dass kurzfristige Planung und Silo-Denken nicht die Lösung bringen werden.

Der Historiker Adam Tooze von der New Yorker Columbia University hält eine Polykrise für besonders heimtückisch, weil sie sich teufelskreisähnlich selbst verstärkt. Der Star-Professor ist auf gut recherchierte Katastrophenforschung spezialisiert, von der Finanzkrise 2008 bis zum Corona-Lockdown der Weltwirtschaft 2020. "In der Polykrise kommt es zu ganz verschiedenartigen Schocks, die dann aber interagieren, sodass der Effekt überwältigender wird als die Summe seiner Teile", schreibt Tooze in seinem Blog, in dem es um aktuelle Risikolagen geht, die er in sogenannten Krisenbildern und einer Risikomatrix darstellt.

Wie viele Krisen oder Systemrisiken zu diesem Mahlstrom gehören, darüber ist die Wissenschaft uneins. Der aktuelle Global Risks Report des Weltwirtschaftsforums zum Beispiel verfolgt die Wahrnehmung von 37 Risiken, während Toozes Matrix nur acht "makroskopische Risiken" auflistet. Nouriel Roubini, der Untergangsprophet der Wall Street, identifiziert wiederum zehn sogenannte "Megabedrohungen", vor denen er in seinem namensgebenden Buch Megathreats warnt: "Rechnet mit vielen düsteren Tagen, meine Freunde."

"Grundlegende Parameter unserer Existenz wie Klima und Bevölkerung verschieben sich."

Michael Lawrence

Forscher
Cascade Institute

Krisenlisten aufzustellen, ist verlockend, sollte aber nicht von der eigentlichen Aufgabe ab­lenken, warnt Michael Lawrence, der am Cascade Institute forscht. Die kanadische Denkfabrik konzentriert sich auf Polykrisen, um "Interventionen für schnellen globalen Wandel" zu erforschen. Lawrence meint, dass die Menschheit noch nicht die Voraussicht entwickelt hat, um mit mehreren Brandherden gleichzeitig umgehen zu können. "Wir tendieren dazu, uns an der Vergangenheit zu orientieren, und nehmen an, dass die Zukunft die Trends der Vergangenheit imitieren wird." Ein Irrweg, glaubt Lawrence: "Wir erleben einen noch nie dagewesenen Moment, in dem sich die grundlegenden Parameter unserer Existenz – wie das Klima und die Bevölkerungszahlen – verschieben."

Lawrence ist nicht der einzige Experte, der die richtige Einstellung – und die passenden Werkzeuge – vermisst, um auf eine Polykrise zu reagieren. Herkömmliche Analysen behandelten Risiken als isolierte Ereignisse. Stattdessen bräuchten wir neue Ansätze, um zu verstehen, wie Risiken und Krisen interagieren. Schon in den 1990ern versuchten Futuristen, Wissenschaftler und Nachrichtendienstler, den Kalten Krieg, Extremismus, dis­ruptive neue Technologien und den Kampf um Bodenschätze als Gesamtbedrohung zu begreifen.

Ein gutes Beispiel dafür ist der vierjährliche Global Trends-Bericht des National Intelligence Council (NIC) der USA, in dem Krisen und Risiken um zwei Dekaden weitergesponnen werden. 1997 noch als Geheimdokument veröffentlicht, ist der Bericht inzwischen öffentlich zugänglich. Die letzte Ausgabe erschien Ende 2020 mit einem Ausblick auf 2040 und trägt so ominöse Untertitel wie "Eine umkämpftere Welt" und "Wachsende Unsicherheit".

Mathew Burrows war Hauptautor von drei Ausgaben. Der CIA-Veteran ist davon überzeugt, dass die facettenreichen Berichte das Risikobewusstsein von Entscheidungsträgern durchaus verbessern; gleichzeitig schränkt er ein, dass "westliche Regierungen unfähig zu sein scheinen, gleichzeitig an mehr als einer Krise zu arbeiten". Dies bedeute häufig, dass sich die anderen Gefahren erhöhen, während man sich an der einen Problemstellung abarbeitet.

Eine Collage aus mehreren Illustrationen, hauptsächlich in rosa, gelben und lila Farben, die im Pixel-Stil unter anderem einen Kampfjet der Luftwaffe, eine Atombombe, eine überfahrene Katze und zwei Grabsteine mit Viren darauf zeigen.
Zweischneidiges Schwert: Technologischer Fortschritt sorgt auch für neue Sicherheitsprobleme.

Einen weitreichenderen Versuch startete das U.S. State Department 2005 mit dem Global Futures Forum. Das GFF versuchte, verschiedene Zukunftsszenarien zu konstruieren und von diesen aus eine Brücke zurück in die Gegenwart zu schlagen. Susan Nelson war eine der Karrierebeamten, die das inzwischen aufgelöste GFF organisierten. Sie beschreibt das Forum als "ein einzigartiges Netzwerk aus Nachrichtendienst- und Sicherheitsexperten aus 24 Mitgliedsstaaten". Die Runde versuchte, transnationale Sicherheitsprobleme gemeinsam zu antizipieren und zu lösen. Das 1.800 Mitglieder starke GFF bestand aus Interessengemeinschaften, die sich eigenständig um verschiedene Themen herum bildeten. Die sich überschneidenden Risikoszenarien wurden damals allerdings noch nicht "Polykrise" genannt.

Um plausible Zukunftsszenarien zu erhalten, nahmen die Teilnehmer den besten und den schlechtesten Fall an. Dann versuchten sie, Ereignisse oder Handlungen zu finden, die zurück in die Gegenwart führen könnten. "Der Wert solcher Szenarien liegt darin, Entscheidern mehr Möglichkeiten zu geben, die Zukunft zu gestalten, statt einfach nur zu reagieren", erläutert Nelson.

"Es war dann aber schwierig, vielbeschäftigte Entscheidungsträger dazu zu bringen, bei den zeitintensiven Übungen mitzumachen", erinnert sich die Beamtin. Politikern und anderen Entscheidungsträgern zu zeigen, wie Mehrfachkrisen zusammenspielen, bleibe also eine schwierige Aufgabe – dabei sei sie "dringlicher notwendig denn je".

"Wir können die Schwarzseher die Zukunft nicht kolonisieren lassen."

Cat Tully

Gründerin
The School of International Futures

Was ist also der Hauptgrund dafür, dass Polykrisen bis heute nicht oben auf der Agenda stehen? Zu oft ignorieren Institutionen die Langfristplanung. Politiker sind meist nur relativ kurz im Amt und müssen Resultate liefern. Um sie zu sensibilisieren, braucht es einen Interessenausgleich, sagt Susan Nelson: "Wenn wir Politiker dazu bewegen wollen, zu erwägen, wie sich ihre Entscheidungen auf die Zukunft auswirken, müssen wir kurzfristige Etappensiege einbauen." Zum Beispiel schnelle Erfolge in Themen der nationalen Sicherheit. Das Problem dabei: Kurz- und langfristige Ziele passen nicht immer zusammen.

Dennoch scheint sich die Perspektive der Entscheider nun endlich zu erweitern. Ein gutes Beispiel ist Cat Tully, eine ehemalige Strategieplanerin in Tony Blairs britischem Regierungsteam, die später die School of International Futures gründete. Wenn sie ihr weltweites, nicht gewinnorientiertes Kollektiv bei internationalen Organisationen und Regierungen bewirbt, steigt sie so ein: "Die Systeme zerbrechen. Wir sind begeistert." Damit spielt sie auf die Gelegenheit an, den dysfunktionalen Status quo dazu zu nutzen, neue Systeme und Institutionen zu schaffen.

"Wir können nicht zulassen, dass die alten Schwarzseher die Zukunft mit ihrem Elend kolonisieren", sagt Tully. Stattdessen will sie CEOs und Politiker mit ihrem Netzwerk dazu bewegen, über zukünftige Generationen nachzudenken. "Generationengerechtigkeit steckt in allem drin, von Corona bis Klimawandel", berichtet Tully von ihren regulären Treffen auf Entscheiderebene. So wirkte sie zum Beispiel mit, als der UN-Generalsekretär 2021 einen Spezialbeauftragten für zukünftige Generationen ernannte.

Der Futurist und Friedensforscher Ari Wallach, Autor des Buches Longpath, veranstaltet ebenfalls Workshops für Entscheider. Wallach will zeigen, dass wir uns an einem Scheidepunkt befinden: ein historisches Ereignis, bei dem sich nie dagewesene Wellen des Wandels an unseren Küsten brechen, um den Status quo hinwegzuspülen.

"Die hyper-rationalisierte Art, die Welt zu betrachten, dieser Techno-Solutionismus, neigt sich dem Ende entgegen", argumentiert Wallach. Statt jedoch zu verzweifeln, ermuntert er Entscheidungsträger, ein positives Narrativ zu entwickeln. "Wenn du keine Idee hast, wohin es gehen soll, wirst du dich der Krise ergeben. Wir brauchen also ein Gegengewicht." Für Wallach bedeutet das, in sich zu gehen: Welche heutige Tat kann uns zu den Bewahrern einer besseren Zukunft machen? Ansätze wie zum Beispiel einen Stuhl am Tisch leer zu lassen, der zukünftige Interessenvertreter repräsentiert, klängen vielleicht banal, funktionierten aber gut: "Das ermutigt C-Level-Leute, über künftige Generationen zu sprechen."

"Die hyper-rationalisierte Art, die Welt zu betrachten, dieser Techno-Solutionismus, neigt sich dem Ende entgegen."

Ari Wallach

Autor des Buches Longpath

Einen guten Ausgang wünscht sich auch der berühmte Oxford-Philosoph William MacAskill. In datengetränkten Gedankenspielen fragt er, "was wir der Zukunft schulden". Sein Buch What We Owe the Future wägt ab, welche heutigen Entscheidungen Einfluss haben auf das Leben von Milliarden ungeborener Menschen.

MacAskill hat den Begriff Longtermism geprägt – Langfristigkeit. Der Pfad dorthin sei "eine riskante Expedition in unbekanntes Terrain", schreibt der Schotte. "Wenn wir versuchen, die Zukunft zu verbessern, wissen wir nicht, welche Bedrohungen kommen oder wo wir genau hinwollen; nichtsdestotrotz können wir uns vorbereiten. Wir können die Landschaft auskundschaften, unsere Expedition gut ausstatten und sie trotz der Unsicherheiten gegen die Gefahren schützen, die wir bereits kennen."

Während immer mehr Wissenschaftler und Theoretiker erforschen, womit es die Menschheit zu tun bekommen wird, steht eine große Frage unbeantwortet im Raum: Sind Menschen überhaupt dazu fähig, in einer immer chaotischeren Welt mit so vielen Aufgaben zu jonglieren? "Wir sind gut ­darin, jeweils ein Problem zu lösen", analysiert Michael Lawrence vom Thinktank Cascade, "diese Silo­Problemlösungen passen aber nicht zu unserem aktuellen Dilemma."

Deshalb plädiert er für mehr Forschung zu Interferenzen zwischen Krisen, die sich gegenseitig verstärken: "Wir müssen mehr darüber nachdenken, wie wir Störungen durch globale Polykrisen umwandeln können in Gelegenheiten, unsere Gesellschaften neu zu programmieren."

ÜBER DEN AUTOR
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Steffan Heuer lebt in Berlin und Kalifornien. Seit mehr als zwei Jahrzehnten schreibt er über Technologie, Wirtschaft und Kultur des Silicon Valley, unter anderem für The Economist, die MIT Technology Review und brandeins.
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