Bericht aus der Zukunft

Think:Act Magazin "Journey to the future"
Bericht aus der Zukunft

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Think:Act Magazine

München Office, Zentraleuropa
13. April 2023

Wie das Auswerten von Daten Erkenntnisse über die Zukunft generiert

Artikel

von Geoff Poulton
Illustrationen von Jacques Kleynhans

Prognosen sind nicht allein Wahrsagern vorbehalten. Experten analysieren Daten, um eine Vorstellung von der Zukunft zu bekommen. Sie machen sich Gedanken, wie wir uns auf Veränderungen vorbereiten können. Drei Zukunftsforscher erläutern, wie die Welt in den nächsten Jahrzehnten aussehen könnte.

Mit seinen Prognosen für das Jahr 2000 lag H.G. Wells oft richtig. Das Wachstum der Stadtränder, die EU, die Raumfahrt und das Satellitenfernsehen sah der britische Science-Fiction-Autor bereits Anfang des 20. Jahrhunderts voraus. Bei anderen Themen lag er daneben, der Kapitalismus ist zum Beispiel bislang nicht in einer Serie von Kriegen untergegangen. Trotzdem gilt Wells' Werk als Geburtsstunde der Zukunftsforschung, der Untersuchung sozialer, technologischer und ökologischer Trends, um eine Idee vom Leben in der Zukunft zu bekommen.

Heute nutzen Tausende Futuristen aus aller Welt nicht nur ihre Vorstellungskraft, sondern analysieren auch große Datenmengen. Wir befragen drei Experten zu den künftigen Megatrends, die weitreichenden Einfluss auf unser Leben und Arbeiten haben werden.

Eine Illustration zeigt den Zukunftsforscher Richard Florida. Er ist umgeben von mehreren Illustrationen, die sein Forschungsgebiet umreißen.
Mehr Interaktion: Für städtische und vorstädtische Gebiete ist mit einer besseren Mobilität und digitalen Konnektivität zu rechnen. 

Richard Florida

Urbane & Soziale Entwicklung

Manche Menschen glauben, dass sich Städte massiv verändern werden – ich bezweifle das. Um das Jahr 2040 wird es sicherlich eine paar neue futuristische Gebäude geben, Lieferroboter und Drohnen. Doch im Großen und Ganzen dürften Städte genauso aussehen wie heute. Meines Erachtens entwickeln sie sich jedoch zu einem effizienteren Ort für die Gestaltung menschlicher Aktivität. Das heißt: bessere Mobilität und Raumnutzung mit multifunktionalen Strukturen, auch dank technologisch optimierter Telearbeit.

Die Zeiten, in denen die Geschäftsviertel in den Innenstädten für pendelnde Wissensarbeiter reserviert waren, sind vorüber. Sie werden künftig eher eine Art "Central Connectivity District" sein, darunter verstehe ich zentrale Orte der Interaktion. Innenstädte werden nach Geschäftsschluss nicht mehr menschenleer sein. Leben, Wohnen und Arbeiten werden sich wieder stärker vermischen. Und weil London und New York schon heute die besten Orte der Welt sind, um sich zu vernetzen, werden sie künftig dank Flughäfen, Hotels und Restaurants genauso wichtig sein.

"Wir brauchen einen neuen sozialen Konsens, der allen Menschen Chancen bietet."

Richard Florida

Ökonom und Stadtforscher

Über den Niedergang von Superstarstädten wie New York wurde schon viel diskutiert. Ich glaube, dass solche Städte eher wachsen als schrumpfen. Und ich spreche nicht nur von physischer Agglomeration und Ausbreitung – es wird auch mehr virtuelle Ballungsräume geben. Wir werden größere Städtenetzwerke sehen, mit Metropolen in ihren Zentren. Städte werden gleichzeitig physisch und digital sein. Nehmen wir London: Andere britische Städte werden noch stärker mit der Hauptstadt zusammenwachsen, aber London wird zugleich engere virtuelle Verbindungen zu anderen Orten in der ganzen Welt aufbauen. Das bedeutet, wir bekommen digitale Vorstädte. Der Arbeitsmittelpunkt eines Menschen kann in London liegen, aber er wohnt vielleicht ganz woanders und muss nur einmal im Quartal pendeln. In den USA zum Beispiel entwickelt sich Miami gerade zu einem digitalen Vorort von New York.

Demografie und soziale Mobilität werden für die Entwicklung der Städte in den nächsten Jahrzehnten von großer Bedeutung sein. Wirtschaftliche Mobilität wird geografische Mobilität voraussetzen. Dadurch werden die Großstädte noch kosmopolitischer. Sie sind bereits heute Magnete für talentierte, gebildete und ehrgeizige Menschen aus der ganzen Welt – und das wird noch zunehmen. Dank Kommunikations- und Telearbeits­technologien müssen viele Menschen nicht mehr permanent in diesen Städten leben, um die Vorteile der Metropolen nutzen zu können.

Natürlich müssen wir auch an diejenigen denken, die nicht so mobil sind. Wir brauchen einen neuen sozialen Konsens, der allen Chancen bietet. Das wird dauern, aber wir werden das schaffen. Das Tolle an Städten ist ja, dass sie so vielfältig sind. Hier entstehen innovative Lösungen, die danach oft auf nationaler Ebene ausgerollt werden.

Machen wir uns nichts vor: Bis wir am Ziel sind, müssen wir eine schwierige Anpassungsphase bewältigen. Wir brauchen wirksamere Instrumente für den Aufbau besserer Städte, vor allem in Entwicklungsländern , die gerade erst richtig mit der Urbanisierung beginnen. Und wir kommen viel zu langsam voran. Armut, Ungerechtigkeit, Klimawandel – den großen Herausforderungen der Gegenwart begegnen wir besonders geballt in den Metropolen. Aber die Stadtverwaltungen verfügen meist nicht über die Instrumente und Fähigkeiten, um ihre Probleme selbst zu lösen. Vor Ort brauchen wir mehr Eigenverantwortung und Entscheidungsspielräume. Ich bin mir sicher: Die besten Metropolen der Welt entstehen in den Rathäusern und Stadtparlamenten.

Eine Illustration, die links oben ein Bild von Gerd Leonhard zeigt. Rechts von und unter seinem Bild befinden sich grafische Symbole, die Körperhaltungen, Kernfusion, Kreislaufwirtschaft, KI, die menschliche Revolution und medizinische Messwerte darstellen.
Zukunftsfähig: Die digitalen, nachhaltigen und auf die menschlichen Bedürfnisse zielenden Revolutionen stehen im Zentrum.

Gerd Leonhard

Künstliche Intelligenz

Die nächsten 20 Jahre werden die Mensch­heit mehr verändern als die vorangegangenen 200. Denn die Wachstumskurve einer Reihe von Schlüsseltechnologien zeigt steil nach oben. Wir werden vom 3D-Druck kleiner, eher einfacher Gegenstände wie Zahnimplantaten zur schnellen Herstellung komplexer und lebenswichtiger Dinge wie Häuser, Körperorgane und Lebensmittel übergehen. Die Quanteninformatik wird dazu beitragen, durch Kernfusion unbegrenzt saubere Energie zu erzeugen. Und wir werden die meisten eintönigen, repetitiven und gefährlichen Arbeiten an Maschinen auslagern.
Im Jahr 2040 werden viele von uns nur noch drei bis vier Stunden am Tag arbeiten müssen. Das bedeutet jedoch nicht, dass Maschinen unsere Arbeit vollständig übernehmen. Stattdessen werden wir mehr Zeit haben, um uns auf kreativere Tätigkeiten zu konzentrieren. Menschen besitzen viele Arten von Intelligenz – emotionale, soziale, körperbezogene und andere mehr. Maschinen verfügen eigentlich nur über eine – die Logik. Während sie hier bereits viel besser sind als wir, werden wir den Maschinen in anderen Aspekten noch einige Jahrzehnte lang voraus sein.

In der Arbeitswelt müssen wir darauf achten, wer von den Effizienz- und Produktivitätssprüngen durch Künstliche Intelligenz (KI) und Robotik profitiert. Die Gewinne müssen gerecht verteilt werden. Das müssen sowohl der private als auch der öffentliche Sektor regeln. Die Politik darf die externen Effekte nicht außer Acht lassen. Da der Wandel so schnell geht, müssen sich Regierungen rasch auf die Zukunft vorbereiten. Die meisten hängen noch immer in der Vergangenheit fest. Ohne die Entwicklung von Wissenschaft und Technologie zu behindern, müssen wir dafür sorgen, dass sie zu unserem Vorteil gereicht und kontrollierbar bleibt.

Ein wichtiger Bereich, in dem sich die Technologie in den nächsten 15 bis 20 Jahren enorm verbessern wird, ist die Gesundheitsversorgung. 2040 werden die meisten von uns digitale Geräte nutzen, die pausenlos eine Vielzahl gesundheitsbezogener Daten aufzeichnen – beispielsweise das Körpergewicht, den Blutzucker oder die Herzfrequenz. KI-Systeme werden diese Daten analysieren und maßgeschneiderte Empfehlungen zur Verbesserung unserer Gesundheit geben. An die Stelle einer "Krankenversorgung" tritt eine proaktive Gesundheitsvorsorge. Aber genau wie am Arbeitsplatz benötigen wir einen öffentlichen Kontrollmechanismus, damit dies sicher und zuverlässig geschieht.

Ich denke, wir werden drei Revolutionen erleben: Die digitale Revolution ist schon im Gange, die der Nachhaltigkeit steht am Anfang, eine auf die menschlichen Bedürfnisse gerichtete Revolution wird noch kommen. Die Menschen wollen keine dystopischen Horrorszenarien mehr hören, wonach Maschinen die Macht übernehmen. Wir werden erkennen, dass wir für die Zukunft neue Regeln und soziale Verträge brauchen, die die Menschenwürde sichern. Und uns wird klar werden, dass wir kooperieren müssen, um das zu erschaffen, was ich gute Zukunft nenne. Denn es mangelt nicht an Geld oder Ideen, sondern an der Bereitschaft zu mehr Kooperation.

Eine Illustration mit einem Bild von Blake Morgan in der unteren Mitte. Links, rechts und oben ist sie umgeben von Illustrationen, die Kunden beim Einkaufen in einem Supermarkt und ein Warenlager sowie ein Sofa mit einem Tisch davor darstellen.
Passgenau:  Ein individueller und authentischer Marken-Ansatz fördert die Loyalität der anspruchs­vollen Kunden.

Blake Morgan

"Marketing wird sich eher wie ein Freund anfühlen, der Ihnen von einem Produkt erzählt, das Sie lieben werden."

Blake Morgan

Der Konsument von morgen

Shopping wird sich Künftig mehr um das Einkaufserlebnis als um die Produkte selbst drehen. Der Einkaufsbummel wird stärker personalisiert und technologie­getrieben sein. Es wird einen nahtlosen Übergang zwischen der physischen und der digitalen Welt geben, um Kunden jederzeit genau das zu bieten, was sie wünschen. Geschäfte werden zu Erlebnisräumen, in denen man auf ganz neue Art und Weise mit Marken in Kontakt treten kann.

Kunden wollen die Produkte anfassen, ausprobieren und sie dann personalisiert und schnell nach Hause geliefert bekommen. Geschäfte werden Technologien nutzen, um einzigartige Kundenerlebnisse zu schaffen, zum Beispiel durch den Einsatz von Augmented Reality (AR) oder Virtual Reality (VR). Es wird künftig das Beste aus beiden Welten geben: ein maßgeschneidertes Produkt mit schneller und bequemer Lieferung, aber auch eine persönliche Kundenbetreuung und ein individuelles Einkaufserlebnis. Marken müssen ein Gleichgewicht schaffen – zwischen Produktinnovationen und der menschlichen Komponente.

Die Personalisierung betrifft auch Vertrieb und Marketing. In 10 bis 15 Jahren werden die Kunden sehr viel bewusster wahrnehmen, wie Unternehmen um ihre Aufmerksamkeit buhlen. Für Vertrieb und Marketing ist dann ein zielgerichteter Ansatz entscheidend: Kunden werden Produkte und Erlebnisse empfohlen, von denen sie noch gar nicht wissen, dass sie sie haben wollen – anstatt ständig gedrängt zu werden, die gleichen Produkte wie alle anderen zu kaufen. Marketing wird sich eher wie ein Freund anfühlen, der Ihnen von einem Produkt erzählt, das Sie lieben werden – bevor Sie selbst überhaupt merken, dass Sie es brauchen. Deshalb müssen Unternehmen künftig ihre Massenwerbung reduzieren und sich auf die Datenauswertung und eine personalisierte Ansprache fokussieren. Sie müssen lernen, ihre Kunden zu verstehen, und ihnen so nahezu in Echtzeit ein persönliches Kauferlebnis ermöglichen.

Ich rechne damit, dass Verbraucher in den nächsten Jahrzehnten noch mehr Macht bekommen werden als heute. Sie werden sich nicht allein wegen der Qualität oder wegen des Preises für eine bestimmte Marke entscheiden. Es wird um ein Gesamterlebnis gehen. Insbesondere um das, wofür eine Marke steht. Und ganz besonders auch darum, ob das Unternehmen aus Sicht seiner Kunden Gutes tut. Wenn eine Marke nicht transparent oder authentisch wirkt, werden die Kunden die Produkte nicht mehr kaufen wollen. Nachhaltigkeit und gesellschaftliches Engagement werden künftig viel wichtiger werden. Viele Unternehmen unterschätzen das noch immer.

Letztendlich trauen viele Bürger Unternehmen mehr als Regierungen zu, in der Welt etwas zu bewirken. Marken haben damit eine große Verantwortung und die Möglichkeit, einen Beitrag für die Gesellschaft zu leisten. Sie können sich in ihren Geschäftsregionen engagieren und sich dort verstärkt für soziale Themen einsetzen. Meine Prognose: Marken, die diesen Trend außer Acht lassen, werden in Zukunft von ihren Kunden ignoriert und spürbar Marktanteile verlieren.

Technologie der Zukunft: Neue Entwicklungen sollten uns zu besseren, gesünderen und glücklicheren Menschen machen – nicht nur zu effizienteren.
Technologie der Zukunft: Neue Entwicklungen sollten uns zu besseren, gesünderen und glücklicheren Menschen machen – nicht nur zu effizienteren.

Ungewissheit hat auch etwas Gutes: Unsere Zukunft ist noch offen

Auch wenn das Weltgeschehen derzeit besonders unsicher und unvorhersehbar erscheint, sollte man doch nicht vergessen, dass das nichts Neues ist. Der Unterschied zu früheren Epochen ist das extrem hohe Innovationstempo, getrieben durch technologische Entwicklungen. Branchen, Lieferketten und ein Großteil der Weltbevölkerung sind enger denn je vernetzt. Natürlich hat diese Entwicklung Milliarden Menschen enorme Vorteile gebracht. Aber sind wir heute womöglich an einem Wendepunkt angelangt? Unsere drei Zukunftsforscher konzentrieren sich auf verschiedene Bereiche der Gesellschaft. Doch sie haben einen gemeinsamen Nenner, und das ist die hohe Bedeutung, die sie menschlichen Erfahrungen beimessen.

Bei der Gestaltung unserer Zukunft sollten wir berücksichtigen, dass Technologie uns zu besseren, gesünderen und glücklicheren Menschen machen kann. Aus heutiger Sicht ist das ein logisches Ziel. Aber natürlich können sich Werte, Wahrnehmungen und Prioritäten ändern – und das werden sie wahrscheinlich auch. Wie Chuck ­Klosterman in seinem Buch But What If We're Wrong? feststellt, kann das, was einst vernünftig erschien, ins Absurde kippen. Das macht es fast unmöglich, die Zukunft in den nächsten Jahrzehnten vorherzusagen. Denn: "Wenn man in den Nebel einer fernen Zukunft blickt, ist alles eine Annahme."

ÜBER DIE AUTORIN
Portrait of Geoff Poulton 
Geoff Poulton 
Geoffs Artikel über Innovation und Nachhaltigkeit wurden vom Guardian, von der Times und der Deutschen Welle veröffentlicht. Er hat für globale Marken wie BMW und Airbus gearbeitet. Geoff lebte viele Jahre in Deutschland, danach in London, heute schreibt er am Meer in Cornwall.
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