Illustrated figures inside a colorful circus tent.
Sich neu erfinden mit den Flying Wallendas

Think:Act Magazin "Der Zirkus der Transformation"
Sich neu erfinden mit den Flying Wallendas

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Think:Act Magazine

München Office, Zentraleuropa
22. Januar 2024

Unternehmerische Höhen und Tiefen erfordern Mut und Resilienz – sagt Nik Wallenda

Artikel

von Bennett Voyles

Erfolg hängt oft davon ab, sich angesichts von Widrigkeiten neu zu erfinden. Dies ist die Geschichte der legendären Flying Wallendas, einer Familie von Hochseilartisten und Waghälsen, die seit sieben Generationen ihr Publikum begeistern. Sie zeigt, wie man seine Gefühle trainieren kann, um weiterzukommen, und bietet Lektionen in resilienter Führung und Teamzusammenhalt unter hohem Druck.

Sieben der Flying Wallendas begannen gerade eine ihrer beeindruckendsten Nummern – vor 7.000 Zuschauern balancierten die Akrobaten im Detroiter Michigan State Fair Coliseum in Form einer dreistöckigen Pyramide hoch über dem Boden. Zwischen ihnen und dem Beton lag nichts als ein 1,9 Zentimeter schmales Drahtseil und ein paar blaue Scheinwerfer. Dieser 30. Januar 1962 war ein ganz gewöhnlicher Dienstag, bis auf einmal der führende Drahtseilartist die Kontrolle über seine Balancierstange verlor. "Ich kann sie nicht mehr halten", raunte Dieter Schepp, bevor er zehn Meter tief fiel. Mit ihm fielen, wie es ein Zirkusclown später erzählte, Amerikas berühmteste Akrobaten vom Drahtseil "wie Kokosnüsse von einer Palme".

Schepp, ein 23-jähriger Wallenda-Neffe, starb, ein Wallenda-Schwiegersohn mit ihm. Ein Wallenda-Sohn war querschnittsgelähmt und ein Cousin verletzte sich am Kopf. Die verbleibenden gehfähigen Wallendas hingegen schafften es irgendwie, schon am nächsten Abend wieder aufs Seil zu steigen – unter ihnen der Clanpatriarch Karl Wallenda, der sich für die Vorstellung aus dem Krankenhaus schleichen musste.

Schwarz-Weiß-Foto der Hochseilakrobaten beim Gang über ein Drahtseil mit langen Stangen, die sie vor sich halten, um das Gleichgewicht zu halten.
Die hohe Kunst des Entertainments: Mit ihrer Sieben-Personen-Hochseilpyramide ohne Netz und doppelten Boden zogen die Flying Wallendas das Publikum in ihren Bann.

Im folgenden Jahr begannen die Wallendas sogar wieder damit, die Pyramide aufzuführen – wobei sie weiter der Familientradition folgten, kein Netz zu spannen. Der deutschstämmige "Vati" Wallenda wollte nicht, dass die Leute seine Familie für Feiglinge hielten.

Er hätte sich keine Sorgen machen müssen. Noch heute, mehr als 60 Jahre danach, lebt die siebte Generation der Wallendas von der Hochseilartistik, und das trotz weiterer schwerer Unfälle in den folgenden Jahren – einschließlich seines eigenen tödlichen Sturzes von einem Seil zwischen zwei Hoteltürmen in San Juan, Puerto Rico, im Jahr 1978.

"Mit dem, was wir tun, haben wir sieben Familienmitglieder verloren, doch wir machen weiter", sagte sein Urenkel Nik Wallenda bei einem Backstageinterview am Missouri Theater, wo er 2023 mit seinem Zirkus auftrat.

Verleiht Flügel

Wie haben die Wallendas trotz so vieler traumatischer Ereignisse die Nerven behalten, weiterhin neue Nummern zu erfinden und ihr Publikum zu fesseln? Dafür scheint es mehrere Gründe zu geben. In seinen Memoiren, Balance: A Story of Faith, Family, and Life on the Line, nennt Nik Wallenda die christliche Religion als Quell seiner Kraft. Vielleicht liegt es auch an seiner Erziehung. Als Spross einer alten deutsch-amerikanischen Zirkusfamilie wuchs Nik mehr oder weniger in den Lüften auf. "Auf dem Drahtseil zu gehen ist für mich völlig natürlich … Als du klein warst, hast du gelernt, auf dem Boden zu laufen – und ich auf dem Seil", sagt er.

Psychologisch gesehen hängt Resilienz laut Experten von vier Charaktereigenschaften ab. Cary Cooper, Professor für Organisationspsychologie und Gesundheit an der Manchester Business School und Mitautor von Resilienz als Erfolgsfaktor, argumentiert, dass es dabei darauf ankommt, wie anpassungsfähig und wie selbstbewusst man ist; ob man in der Lage ist, Unterstützung zu suchen, wenn man sie benötigt; und ob man es schafft, sich eine Sinnhaftigkeit des eigenen Tuns zu bewahren.

Normalerweise entwickeln sich diese Eigenschaften in der Kindheit. Forscher haben jedoch herausgefunden, dass Kinder, selbst wenn sie erhebliche Widrigkeiten wie Lernschwächen erfahren mussten, zu gut ausgeglichenen Erwachsenen heranwachsen können. Jedenfalls, sofern sie einen "charismatischen Erwachsenen" trafen – jemanden, der wirklich an sie geglaubt hat, so Robert Brooks, ein Psychologe aus Boston und Mitautor von Das Resilienzbuch: Kinder fürs Leben stärken.

Obwohl seine Eltern nicht mehr an die Zukunft ihrer Branche glaubten und ihn davon abhalten wollten, schloss Nik sich schließlich seiner Familie auf dem Hochseil an. Der Wendepunkt kam im Jahr 1997, als der Hamid-Morton Shrine Circus seinen Onkel Tino anrief und die Wallendas fragte, ob sie die Sieben-Personen-Pyramiden-Nummer in Detroit nachstellen würden.

Nach langen Proben setzen sie am 6. März 1998 ihre Füße aufs Seil. Um die Pyramide im Gleichgewicht zu halten, bewegen sie sich mit jeder Bewegung ihrer Teamkollegen "seitwärts und auf und ab. Wir müssen uns ganz leicht biegen lassen, ohne zu brechen." Unter den Augen ihres gelähmten Onkels schaffen Nik und seine Verwandten es in vier Minuten über das Drahtseil. Als die großen Fernsehsender darüber berichten, entschließt sich der Oberstufenschüler, doch nicht Kinderarzt zu werden, sondern beim Zirkus zu bleiben.

Diese Art Resilienz kann man trainieren. Nur 5 bis 10 % der Menschen "sind nicht besonders widerstandsfähig und werden es nie sein", sagt Cooper. Der Rest von uns hat das Zeug dazu. Eine psychometrische Untersuchung kann Menschen zeigen, wo ihre Schwächen liegen und wie sie sich auf ihr Verhalten auswirken. Ein erfahrener Psychologe kann dabei helfen, diese Verhaltensweisen "in ein paar Sitzungen über ein paar Wochen hinweg" zu modifizieren, sagt Cooper.

Natürlich wird nicht jedes Team so resilient werden wie die Wallendas. Selbst für langjährige Teams kann es schwierig sein, zusammenzubleiben, vor allem in Zeiten des Wandels. Die Wallendas sind tatsächlich noch immer in der Luft, aber weit weniger oft am selben Ort. Tino Wallenda führt eine zehnköpfige Truppe an, während sein Neffe Nik eine sechsköpfige Gruppe, den Nik Wallenda Zirkus, leitet. "Es gab da nie Meinungsverschiedenheiten", sagt Nik. "Ich habe mich einfach auf große TV-Stunts konzentriert, während sich mein Onkel auf Zirkusse spezialisiert hat."

Teamresilienz baut laut Cooper auf denselben Elementen auf wie die von Einzelpersonen, mit einem Zusatz: "Damit ein Team widerstandsfähig sein kann, muss es den richtigen Typ Vorgesetzten haben. Das muss jemand sein, der über gute zwischenmenschliche Fähigkeiten verfügt." Sozial kompetente Manager seien aber selten, fügt Cooper hinzu – nicht weil es keine Kandidaten gäbe, sondern weil Menschen eher aufgrund ihrer technischen denn ihrer sozialen Fähigkeiten befördert werden.

Ein Landschaftsbild der Niagarafälle, auf dem von links nach rechts ein Drahtseil gespannt ist. Auf dem Seil balanciert mit ausgestreckten Armen ein Mann, der ein rotes Oberteil und blaue Hosen trägt. Man sieht im Hintergrund die schäumenden Wasserfälle unter dem Seil.
Ohne Netz und ohne Boden: 2012 war Nik Wallenda der erste Mensch, der die 550 Meter von der amerikanischen zur kanadischen Seite der Niagarafälle auf einem Seil zurücklegte.
"Man dreht sich leicht im Kreis und macht immer das gleiche. Genau deshalb scheitern viele Familienfirmen."

Nik Wallenda

Mitglied der Flying Wallendas in 7. Generation

Unterstützende und ermutigende Handlungen seien wichtig, betont Brooks, denn die Resilienz in einer Organisation hänge davon ab, inwieweit die Menschen sich als Teil der Gruppe fühlen. Seine Forschung ergab, dass das verbindende Gefühl mit einer Gruppe oft von Dingen wie Mikro-Bestätigungen oder Mikro-Aggressionen abhängt. "Das kann ein einfacher Kommentar sein oder ein Lächeln", sagt er. So brächen Menschen in seinen Schulkultur-Workshops manchmal in Tränen aus, wenn sie sich an einen fiesen Spruch eines Lehrers vor 40 Jahren erinnern.

Mithilfe von Training und Selbstreflexion kann man auch das überwinden. Brooks rät Managern, damit zu beginnen, ihr Ichbewusstsein zu entwickeln: Fragen Sie sich zum Beispiel, wie Sie auf andere wirken. Welche Wörter würden Mitarbeiter verwenden, um Sie zu beschreiben? Wenn die Antwort nicht Ihren Vorstellungen entspricht, versuchen Sie, Anpassungen an Ihrem Verhalten vorzunehmen.

Einfühlsame Manager sollten nach Brooks auch auf ihre Worte achten. Über seine eigene Laufbahn hinweg habe er gelernt, wie wichtig es ist, vorsichtig zu sprechen. Als Therapeut fand er heraus, dass eine negativere Atmosphäre entsteht, wenn er sich allein auf die Probleme seiner Patienten konzentriert. Vielmehr sei es wichtig, bereits beim ersten Treffen nach ihren Stärken zu fragen, ihren "Inseln der Kompetenz". Manager sollten ihren Mitarbeitern demnach auch ab und zu mal ehrlich auf die Schulter klopfen: "Wenn Mitarbeiter sich wohl und als Teil des Unternehmens fühlen sollen, ist es wichtig für sie zu wissen, dass die Führungsebene ihre Stärken wahrnimmt und anerkennt", sagt er.

Lob der Angst

So sehr er den Optimismus seines Urgroßvaters bewundert, räumt Wallenda ein, dass noch ein anderes Gefühl seine Resilienz stärkt: seine Angst. Bis zu drei Shows pro Tag bedeuten für ihn, dass selbst lebensgefährliche Stunts zur Routine werden. Da sei es hilfreich, immer wieder mal an die Gefahren erinnert zu werden. "Selbstzufriedenheit ist tödlich", glaubt er.

Eine zweite Angst scheint für ihn ein noch stärkerer Antrieb gewesen zu sein. So erinnert er sich daran, als Kind gehört zu haben, wie seine Eltern von sinkenden Zuschauerzahlen sprachen und deshalb fürchteten, bankrott zu gehen. Kurzfristig trieb ihn diese Sorge dazu an, so viele Nachmittagsjobs wie möglich anzunehmen, sodass er bereits 20.000 US-Dollar angespart hatte, als er die High School verließ.

Ein Landschaftsbild des Masaya-Vulkans in Nikaragua. Rauch und Dampf steigen aus oranger Lava am Boden des Vulkans auf. Von links nach rechts ist ein Drahtseil gespannt . Auf dem Seil balanciert mit ausgestreckten Armen ein Mann, der ein rotes Oberteil und blaue Hosen trägt. Er geht durch Rauch und Dampf und hält dabei eine lange Balancierstange.
Tanz auf dem Vulkan: Über dem aktiven Vulkan Masaya in Nicaragua unternahm Nik Wallenda 2020 den gefährlichsten Drahtseilakt seiner Karriere.

Geldsorgen prägten auch seine berufliche Karriere. Sie drängten ihn dazu, "über das Zirkuszelt hinauszudenken" und das Schwerkraft-Melodram für das neue Jahrhundert neu aufzusetzen. Also erfand er neue Stunts fürs Fernsehen, in denen er auf Drahtseilen über dem Times Square, den Niagarafällen, der Skyline von Chicago, dem Grand Canyon und einem aktiven Vulkan balancierte. Darüber hinaus stieß er mit der Marke Wallenda in völlig neue Geschäftsbereiche wie Inspirationsreden vor. "Im Geschäft passiert es leicht, dass man sich im Kreis dreht und immer das Gleiche macht", reflektiert er. "Deshalb sieht man oft, dass generationenübergreifende Unternehmen scheitern. Die Zirkuswelt hat Probleme, weil viele Menschen in der Branche weiterhin das Gleiche tun wie ihre Eltern – oder noch häufiger sogar weniger tun als einstmals ihre Eltern."

Nik Wallenda zieht es vor, etwas Neues zu versuchen und dabei zu scheitern, als Risiken überhaupt nicht erst einzugehen: "Ich glaube, viele Menschen sind jeden Tag unglücklich, weil sie selbstzufrieden sind, weil sie ihre Träume aufgeben und sich mit dem Status quo zufriedengeben."

ÜBER DEN AUTOR
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Bennett Voyles
Bennet Voyles ist ein Wirtschaftsjournalist und lebt in Berlin. Im Laufe der vergangenen 20 Jahre hat er mehr als 1.000 Artikel über die unterschiedlichsten Themen geschrieben. Zudem ist er Autor des Reiseberichts Onward, Backward! -or- A Ramble to Santiago.
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