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Krisenfeste Lieferketten

Krisenfeste Lieferketten

9. Juni 2022

Wie sich Unternehmen auf die neuen Verwundbarkeiten der Nach-Covid-Zeit vorbereiten können

Der Begriff von der "neuen Normalität" wurde seit dem Ausbruch der Covid-19-Pandemie oft strapaziert. Auf wenige Bereiche trifft er aber so sehr zu wie auf die weltweite Logistik und vernetzte Lieferketten. Anders als erhofft hat der Druck auf die Lieferketten mit dem Abflauen der Pandemie nicht nachgelassen. Im Gegenteil: Immer neue Krisenereignisse wirbeln die Handelsströme rund um den Globus durcheinander und verschärfen damit die Engpässe. Eine Rückkehr zu Vor-Covid-Zeiten wird damit immer unwahrscheinlicher.

Widerstandfähige Lieferketten
Als langfristiges Ziel sollte der Fokus auf einer nachhaltigen Beschaffung und widerstandsfähigen Lieferketten liegen.

Wer nach Belegen für die aktuellen Verwerfungen sucht, findet sie schnell. Sowohl bei den Frachtkosten und den Lieferzeiten als auch beim Komponentenmangel sowie bei den Rohstoffkosten lassen sich historische Höchststände verzeichnen. Die Gründe für die Lieferkettenprobleme liegen auf der Hand: Nach dem historischen Einbruch von Angebot und Nachfrage infolge der Lockdowns im Frühjahr 2020 erholte sich die Wirtschaft deutlich schneller als erwartet. Die steigende Nachfrage konnte plötzlich nicht mehr bedient werden und setzte eine negative Kettenreaktion in Gang. Dies galt und gilt sowohl für Vorprodukte als auch für Rohstoffe. Anfang 2022 zeichnete sich zwar eine leichte Verbesserung der Situation ab, der Krieg in der Ukraine und neuerliche Lockdowns in China sorgten aber erneut für Turbulenzen entlang globaler Wertschöpfungsketten.

Ein Ende der aktuellen Verwerfungen ist nicht in Sicht. In Zukunft dürften Unterbrechungen von Lieferketten sogar häufiger auftreten, weil die Liste der Bedrohungen wächst und damit auch die Gefahr von neuen Engpässen. Neben geopolitischen Konfrontationen und Naturkatastrophen drängen vor allem potenzielle Finanzkrisen, Cyberangriffe und neue Regulierungsvorschriften auf die Agenda der Unternehmen. Oftmals sind diese Risiken eng miteinander verflochten, was die Unsicherheit für Unternehmen zusätzlich erhöht. Ein Beispiel: Vormals unbedenkliche Dual-Use-Güter, die sich neben zivilen auch für militärische Zwecke eignen, könnten im Zuge geopolitischer Krisen sehr schnell ins Visier der Politik geraten. Davon betroffen sind Chips, Laser oder Sensoren – oder ganz allgemein das Telekommunikations- und IT-Equipment.

"Wer die funktionsübergreifende Zusammenarbeit noch stärker forciert und die entscheidenden Technologieknoten identifiziert, kann sich einen klaren Wettbewerbsvorteil verschaffen."
Portrait of Carsten Bock
Senior Partner
München Office, Zentraleuropa

Klar ist zudem: In einem global vernetzten Handels- und Wertschöpfungssystem können auch vermeintlich kleine Ereignisse große Schäden anrichten. In diese Kategorie fällt beispielsweise die Havarie der „Ever Given“ im März 2021. Das Containerschiff blockierte sechs Tage lang den Suez Kanal und brachte den gesamten Verkehr durch die Passage zum Erliegen. Die Weltwirtschaft kostete der Vorfall 400 Millionen US-Dollar – pro Stunde.

Viele Unternehmen haben auf die neue Unsicherheit bereits reagiert und sich vom lange dominierenden „Just-in-Time“-Modell verabschiedet. Statt die Lieferketten bis ins letzte Detail zu optimieren , werden nun gezielt Puffer aufgebaut – in der Hoffnung, dass sich Schocks auf diese Weise besser absorbieren lassen. Die Schlagwörter der Stunde lauten: Verbreiterung der Zuliefererbasis, Regionalisierung der Produktionsnetzwerke sowie eine Erhöhung des Lagerbestands.

Vieles spricht dafür, dass sich die Zyklen von Verfügbarkeit und Knappheit vor diesem Hintergrund weiter verschärfen. Zu hohe Lagerbestände und Überkapazitäten können in Rezessionszeiten schnell zur Belastung werden. Umso wichtiger ist es, dass sich Unternehmen auf diese neue Normalität vorbereiten. Einzelmaßnahmen sind gut, das Ziel sollte aber eine langfristige Absicherung der Lieferkette sein. Dazu empfiehlt sich ein Vorgehen in drei Schritten:

  • 1. Klarheit über den Ist-Zustand: Die Verantwortung für Lieferketten sollte über funktionsübergreifende KPIs gesteuert werden. Das heißt zum Beispiel, dass der Erfolg der Beschaffung nicht nur im Hinblick auf die Einkaufspreise gemessen wird, sondern auch hinsichtlich der Liefertermine und Zahlungsmodalitäten. Das heißt aber auch, dass innerhalb der Organisation Transparenz über Abhängigkeiten herrscht. So lässt sich beispielsweise mithilfe des Herfindahl-Index ermitteln, wie sich die Konzentration der Zulieferer auf bestimmte Unternehmen oder Länder verändert. In unserem Beispiel hat sich sowohl die Zahl der Zulieferer als auch die Zahl der Länder, in denen diese beheimatet sind, erhöht. In letzter Konsequenz hat deshalb auch die Verwundbarkeit der Lieferkette zugenommen (siehe Konzentrationsindex unten), weil der Anteil aus China bezogener Vorleistungsgüter deutlich angestiegen ist.

  • 2. Individuelle Risikoabwägung vornehmen: Sobald Klarheit über die jeweiligen Abhängigkeiten und Verwundbarkeiten herrscht, sollte eine individuelle Risikoabwägung vorgenommen werden. Klar ist: Sicherheitspuffer sind teuer. Nicht jedes Unternehmen kann sich beispielsweise eine vertikale Integration der Lieferkette oder eine Multisourcing-Strategie leisten. Deshalb sollte auch jedes Unternehmen für sich kalkulieren, wie viel an Mehrkosten es für wie viel an Risikoreduzierung bereit ist, in Kauf zu nehmen. Beziehungsweise ob Verluste bei der Marge in Kauf genommen werden können; oder in welchem Umfang die Zusatzkosten an Kunden weitergegeben werden können.
  • 3. Strategische Abhängigkeiten verhindern: Engpässe bei Rohstoffen und Vorleistungsgütern können immer wieder auftreten und sind teils schwer vorhersehbar. Unternehmen sollten aber unbedingt vermeiden, die Lagerhaltung immer nur für dasjenige Produkt auszuweiten, das aktuell knapp ist. Stattdessen muss die Beschaffung von Rohstoffen und Vorleistungsgütern integraler Bestandteil der Unternehmensstrategie und des Geschäftsmodells sein. Jede Firma muss sich deshalb zu den folgenden Fragen positionieren: Will man nur einen bestimmten Abschnitt der Wertschöpfung abdecken oder wird eine vertikale Integration der vor- und nachgelagerten Wertschöpfungsstufen angestrebt? Lassen sich tragfähige Beschaffungsstrategien über Partnerschaften verwirklichen? Welche Rolle können Standortfaktoren bei der bewussten Entscheidung für einen regionalen Footprint spielen? Wie kann bereits im Rahmen von Forschung und Entwicklung sichergestellt werden, dass absehbare Abhängigkeiten beispielsweise von Rohstoffen vermieden werden?

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