Ein neuer Bauplan für Innovation
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Die aktuelle Ausgabe von Think:Act macht uns in einer Ära knapper Ressourcen und Unsicherheit fit für die Innovationen der Zukunft.
von Neelima Mahajan
Illustrationen von Nigel Buchanan
Als Forschungsergebnisse die Hypothese ihrer Doktorarbeit widerlegten, erkannte Amy Edmondson, dass uns konstruktive Ansätze zum Umgang mit Scheitern fehlen. Heute zeigt die Sicherheitspsychologin, wie wir Unsicherheit effektiver meistern.
Von klein auf wird uns beigebracht, dass Erfolg gut und Misserfolg schlecht ist. Woher kommt das?
Als Kind lernen wir das, was andere bereits wissen – und meist gibt es tatsächlich die eine richtige Antwort. Man lernt, dass Kinder, die die richtigen Antworten geben, geschätzt und gelobt werden. Dann wird man erwachsen, und in der realen Welt zählt meist nur Erfolg. Einige dieser Lehren sind vernünftig, andere sind es nicht. Sie halten Menschen davon ab, smarte Risiken einzugehen, die zu Fortschritt und Innovation führen.
Gibt es Kulturen, in denen Scheitern völlig verpönt ist?
Das hängt eng mit dem sogenannten Machtdistanz-Indikator zusammen, also damit, wie wichtig es Menschen ist, alles richtig zu machen, ihre Ziele zu erreichen und ihr Gesicht zu wahren. In Kulturen mit einem hohen Indexwert wiegen Misserfolge schwerer. Auch wenn niemand gerne scheitert, gibt es gute Gründe dafür, mit Misserfolgen gelassener umzugehen. Die Geschichte zeigt: Länder und Kulturen, die weniger fehlertolerant sind, bringen in der Regel weniger Innovationen hervor. Aber Innovationen sind nicht jedermanns Sache, unabhängig von der Kultur. Vielen Menschen fehlen Sprache und Werkzeuge, sich gedanklich auf Neues einzulassen.
Amy Edmondson ist Novartis-Professorin an der Harvard Business School. Sie führt seit 2011 das Ranking Thinkers50 der wichtigsten Managementdenker an, 2021 und 2023 auf Platz 1. Ihr Buch Wertvolle Fehler war 2023 für den Business Book of the Year Award der Financial Times nominiert. Dieses Interview wurde beim Global Peter Drucker Forum geführt.
Ihr Buch heißt Wertvolle Fehler. Das impliziert, dass es eine gute Art des Scheiterns gibt. Wie kamen Sie darauf?
Die Erkenntnis gewann ich durch meine Untersuchungen von Beratungsunternehmen, Wissenschaftlern, Ärzten und Innovationsträgern in Unternehmen. Es ist zwar logisch und theoretisch einleuchtend, emotional aber nicht sofort zugänglich. Das Verständnis dafür kommt erst mit der Zeit.
Vier Kriterien machen ein Scheitern gut oder intelligent. Eines davon ist, Neuland zu betreten. Es existiert kein Präzedenzfall und kein Prozess, um die gewünschten Ergebnisse zu erzielen. Es gibt kein Rezept dafür. Zweitens muss ein bestimmtes Ziel verfolgt werden. Man experimentiert nicht einfach so herum und scheitert aus Spaß an der Freude, sondern man versucht ernsthaft, ein neues Produkt zu entwickeln, eine wissenschaftliche Entdeckung zu machen oder ein Buch zu schreiben. Drittens: Sie haben Ihre Hausaufgaben gemacht. Sie haben Zeit, Mühe und Aufwand investiert, um herauszufinden, was funktioniert und was nicht, und eine Vorstellung davon erhalten, was Sie als Nächstes ausprobieren wollen. Ihr Versuch ist also gründlich durchdacht. Viertens: Die Fehlschläge, die mit Sicherheit kommen werden, bleiben überschaubar. Die Risiken in puncto Sicherheit, Reputation und Finanzen halten sich in Grenzen. Das Ganze ist eine kluge Teststrategie, aus der man etwas lernt.
Es gibt zwei Arten von vermeidbarem Versagen: zum einen das einfache Versagen mit einer einzigen Ursache, wobei es sich oft um menschliches Versagen handelt; zum anderen das komplexe Versagen mit mehreren Ursachen, von denen keine allein zum Scheitern geführt hätte. Wenn Teamarbeit, Management, Wachsamkeit und Lernen perfekt ineinandergreifen, kann man einem fehlerfreien Ergebnis auf vertrautem Terrain sehr nahe kommen. Das Produktionssystem von Toyota zeigt: Perfekte Autos baut man nur, wenn alle Beteiligten bereit sind, die Fehler in der Produktion zu identifizieren und zu korrigieren. Deshalb ist es ebenso wichtig, vermeidbare Fehler zu verhindern, wie intelligentes Scheitern wertzuschätzen.
"Die erste Frage muss immer lauten: 'Was ist passiert?' Und nicht: 'Wer war das?' oder 'Was war die Ursache?'"
Wie sieht intelligentes Scheitern aus? Können Sie mir ein Beispiel nennen?
Ja, ein sehr gutes sogar: Eine Pharmafirma führt eine klinische Studie für ein vielversprechendes Krebsmedikament durch. Die Wirksamkeit muss in wissenschaftlichen Tests durch den Vergleich von Behandlungs- und Kontrollgruppe nachgewiesen werden. Wenn man alles richtig macht und das Medikament trotzdem nicht wirkt, ist das ein intelligenter Misserfolg. Sehr enttäuschend, aber nicht vorhersehbar. Der Versuch war notwendig. Die Firma wird die Gründe für den Rückschlag analysieren und vielleicht die Zusammensetzung ändern oder erneut mit dem Präparat im Labor experimentieren. Aber es geht weiter!
Wie können Unternehmen intelligentes Scheitern bestmöglich für sich nutzen?
Erstens schaffen Sie die Strukturen und Unterstützung für intelligentes Experimentieren: Raum und Ressourcen. Zweitens etablieren Sie Strukturen, Rituale und Unterstützung, um aus Fehlern zu lernen. Schließlich wollen Sie Ihre Investition optimal nutzen. Es geht darum, die Experimente so klug wie möglich zu gestalten und tiefgreifende und umfassende Erkenntnisse daraus zu ziehen. Die erste Frage muss immer lauten: "Was ist passiert?" Und nicht: "Wer war das?" oder "Was war die Ursache?"
Wie können Unternehmen verschiedene Arten des Scheiterns unterscheiden lernen und richtig damit umgehen?
Die Basis muss stimmen. Es ist wichtig, dass sich alle im Team sicher genug fühlen, um Dinge offen anzusprechen. Es gilt, eine gesunde Fehlerkultur zu entwickeln – eine Kultur, die intelligentes Scheitern akzeptiert und gleichzeitig so viele Probleme wie möglich vermeidet. Wie geht man also vor? Zunächst müssen Sie den Mitarbeitern den Unterschied vermitteln. Dann bringen Sie ihnen bei, die Kriterien zu prüfen: Neuartigkeit, Zielorientierung, Hypothesenbasierung und kleinstmöglicher Umfang. All das lässt sich subjektiv einschätzen. Ich habe viele gescheiterte Innovationsprojekte gesehen, die beim vierten Test durchfielen. Dann stellt man die Frage: Wie hätten wir die gleiche Lektion mit weniger Zeit und Geld lernen können?
Mit dem Wort "Toleranz" bin ich nicht hundertprozentig glücklich. Natürlich müssen die Menschen einander tolerieren. Doch Schlamperei sollten wir nicht tolerieren. Gehen Sie zunächst von guten Absichten aus und versuchen Sie zu verstehen, was passiert ist und was hätte anders laufen können. Fragen Sie nach, bevor Sie Schuld zuweisen, aber setzen Sie klare Maßstäbe. Machen Sie deutlich: Wer zum Beispiel keine Schutzausrüstung trägt, darf nicht mit Toleranz rechnen. Wenn Leute festgelegte Grenzen überschreiten, muss das Konsequenzen haben.
In welchen Unternehmen wird dieser Ansatz erfolgreich praktiziert?
Am einen Ende des Spektrums steht IDEO, die wohl weltweit renommierteste Innovationsberatung. Sie haben dort intelligentes Scheitern fest in ihre Prozesse integriert, denn sie führen ausschließlich Innovationsprojekte durch. Am anderen Ende steht Toyota. Natürlich wird auch dort geforscht und im Labor experimentiert. Sie sind smart. Aber zugleich auch mehr als jeder andere Fertigungsbetrieb besessen davon, auf ihrem Terrain eine makellose Qualität zu liefern. Bei Toyota weiß man: Menschen und Systeme schaffen das nicht ohne Hilfe. Deshalb schulen sie alle in Wachsamkeit, offenem Feedback und Problemlösung. Es ist ein perfekt orchestriertes Zusammenspiel von Prinzipien, Praktiken, Regeln und Systemen mit einem einzigen Ziel: Spitzenleistung.
Im echten Leben arbeiten Firmen ergebnisorientiert. Und CEOs müssen vor ihren Kontrollgremien Rechenschaft ablegen. Scheitern hat keinen guten Ruf.
Gescheiterte Laborversuche oder fehlgeschlagene Pilotprojekte werden in den Boards eher selten diskutiert. Aber als Mitglied eines Verwaltungsrats, Vorstands oder Aufsichtsrats wäre ich sehr besorgt über eine niedrige Fehlerquote. Vielleicht entwickeln sich Umsatz und Gewinn in diesem Jahr positiv. Aber wo steht das Unternehmen in fünf Jahren, wenn keine Innovationen in der Pipeline sind? Deshalb ist es Aufgabe von Aufsichtsrat, Vorstand und Top-Management, dafür zu sorgen, dass wir heute für unsere Kunden exzellente Arbeit leisten, gleichzeitig aber auch Produkte und Dienstleistungen entwickeln, die in Zukunft gebraucht werden. Die Gegenwart gegenüber der Zukunft zu bevorzugen ist verlockend. In diese Falle dürfen Sie nicht tappen.
Das Gegenteil von Erfolg ist nicht Scheitern, sondern die verpasste Chance, unnötiges Scheitern zu vermeiden. Wir können lernen, wann Scheitern uns hilft, kluge Risiken einzugehen und unnötige Fehler zu vermeiden. Wer die eigene Fehlbarkeit akzeptiert, ist erfolgreicher.
In Ihrem Buch sprechen Sie von ungleicher "Lizenz zum Scheitern". Was bedeutet das für Unternehmen?
Eine ungleiche "Fehlerlizenz" zeigt: Es ist eine Sache, zu definieren, was intelligentes Scheitern für einen Unternehmer, Wissenschaftler oder Kreativen bedeutet. Eine andere Sache ist es, eine Kultur zu schaffen, in der diese Möglichkeit allen offensteht, auch unterrepräsentierten Gruppen in bestimmten Positionen. Ihre Misserfolge fallen auf, weil einfach unser Gehirn so funktioniert. Diese Fehlschläge werden ihrer Identitätsgruppe zugeschrieben, was einem weißen Mann in derselben Position womöglich nie passieren würde. Es heißt dann: Das passiert, wenn man eine Frau ans Ruder lässt.
Was können Unternehmen gegen derartige Vorurteile tun?
Sie offen ansprechen. Bei riskanten Aufgaben müssen wir von Anfang an klar sagen: Das kann scheitern, weil wir Neuland betreten. Und wir müssen unsere Tendenz für zweierlei Maß beim Scheitern aufzeigen, damit jeder weiß: Hier könnte ich in alte Denkmuster verfallen. Dagegen muss ich ankämpfen.
Die aktuelle Ausgabe von Think:Act macht uns in einer Ära knapper Ressourcen und Unsicherheit fit für die Innovationen der Zukunft.