Ein neuer Bauplan für Innovation
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Die aktuelle Ausgabe von Think:Act macht uns in einer Ära knapper Ressourcen und Unsicherheit fit für die Innovationen der Zukunft.
von Steffan Heuer
Fotos von Balazs Gardi
Geheimlabore prägten das goldene Zeitalter der modernen Konzerne. Forscher konnten dort ungestört neue Ideen entwickeln. Doch die Zeiten haben sich geändert. In einer Ära von Kostendruck und stetiger Innovation braucht man neue Wege.
Eine der faszinierendsten Innovationsgeschichten des Silicon Valley begann 1970 im beschaulichen Palo Alto. Am Rande des Stanford-Campus gründete der Atomphysiker George Pake im Auftrag der Xerox Corporation ein Forschungszentrum, um das "Büro der Zukunft" zu erfinden. Das Palo Alto Research Center, kurz PARC, genoss dabei eine für die damalige Zeit ungewöhnliche Autonomie: Weitab vom Xerox-Hauptsitz in Rochester, New York, konnten Pake und seine Mitarbeiter ohne bürokratische Fesseln an ihren Visionen arbeiten. Mit einem handverlesenen Team junger brillanter Wissenschaftler machte sich Pake an die Arbeit. Gegenüber der Konzernführung an der Ostküste vertrat er dabei eine klare Position: Schnelle Ergebnisse seien nicht zu erwarten. "Er sagte seinen Chefs, dass sie erst nach zehn Jahren ohne verwertbare Ergebnisse kritische Fragen stellen dürfen", erinnert sich der Wirtschaftskolumnist der Los Angeles Times Michael Hiltzik in seinem Buch Dealers of Lightning. "In den ersten fünf Jahren müssen wir unserem Gespür und unseren Visionen folgen."
Die Strategie zahlte sich aus: PARC wurde zur Geburtsstätte bahnbrechender Innovationen. Hier entstanden der erste Laserdrucker, der Personal Computer "Alto", das für die Entwicklung des Internets wegweisende Ethernet, die Computermaus, die grafische Benutzeroberfläche, elektronisches Papier und die objektorientierte Programmierung. Doch die Geschichte von PARC ist auch eine Geschichte verpasster Chancen. Außer dem Laserdrucker erkannten die Führungskräfte von Xerox nicht das Potenzial dieser bahnbrechenden Entwicklungen. Die Erfinder verließen Xerox mitsamt ihren Technologien und feierten andernorts Erfolge.
Der bekannteste Fall dieser verpassten Chancen ist eng mit Steve Jobs verbunden. Bei einem PARC-Besuch 1979 erkannte der Apple-Gründer sofort das revolutionäre Potenzial des Alto-Computers und entwickelte daraus die wegweisenden Modelle Lisa und Macintosh. Damals, 1996, sprach er laut aus, was die Mehrheit der Innovationsexperten bis heute denkt: "Sie sind am größten Sieg der Computerindustrie vorbeigeschrammt. Xerox hätte die gesamte Computerbranche besitzen können." Diese Episode wirft grundsätzliche Fragen auf, die bis heute relevant sind: Wie organisiert man Innovationsteams optimal? Welches Maß an Freiheit und Ressourcen brauchen solche "Skunkworks", damit aus ihren Entwicklungen nicht nur technologische Durchbrüche, sondern auch wirtschaftliche Erfolge werden? Und sind solche abgeschotteten Innovationslabore überhaupt noch zeitgemäß in einer Ära, in der Tausende Start-ups kontinuierlich Innovationen hervorbringen und disruptiver Wandel fast alltäglich geworden ist?
Der englische Begriff "Skunkworks" hat eine ungewöhnliche Geschichte. Ein Entwicklungsteam von Lockheed Martin benannte sich nach einem Wortspiel aus dem Comic Li'l Abner. Dort wurde regelmäßig ein geheimer Ort in den Wäldern erwähnt, an dem "skonk oil" aus Stinktieren, alten Schuhen und anderen Zutaten gebraut wurde. Wegen des Gestanks mieden die Menschen sowohl den Ort als auch die dort Beschäftigten. Diese Parallele amüsierte das Lockheed-Team, das neben einer Kunststofffabrik bei Los Angeles an geheimen Flugzeugprojekten forschte. Sie machten das Stinktier sogar zu ihrem Logo: Das erste Skunkworks-Innovationslabor befand sich in einem Hangar am Flughafen Burbank, wo ein Team aus Ingenieuren neue Flugzeugdesigns entwickelte.
Das berühmte Lockheed-Labor existiert bis heute. Die Firma hat sich den Begriff rechtlich schützen lassen und präsentiert auf seiner Website die "14 Regeln und Praktiken für die Projektarbeit" des Gründers. Die Grundsätze sind klar: Der Projektleiter behält die volle Kontrolle, es werden nur wenige ausgewählte Experten eingestellt, Bürokratie wird auf ein Minimum reduziert, die Finanzierung ist gesichert und der externe Zugang wird streng kontrolliert.
Was macht ein Innovationslabor zu einer echten Skunkworks-Einrichtung? Die Grenzen sind fließend, erklärt Paul Saffo, ein Analyst aus dem Silicon Valley. Dennoch haben sich manche Prinzipien über Jahrzehnte bewährt, wie die Erfahrungen von IBM, 3M und Meta zeigen. "Ein echtes Skunkworks-Labor lebt von Mitarbeitern, die für eine Idee brennen und sie trotz aller Widerstände durchsetzen", sagt Saffo. "Wird es zu formal oder von oben gesteuert, verliert es seinen Charakter."
"Ein echtes Zukunftslabor lebt von den Mitarbeitern, die für eine Idee brennen und sie durchsetzen."
Allerdings, so Saffo, habe der wachsende Druck der Aktionäre ergebnisoffene Forschungsprojekte in Unternehmen heute nahezu unmöglich gemacht. Es gibt jedoch einige bemerkenswerte Ausnahmen. Zum Beispiel X, ein Verbund visionärer Technologieprojekte, den der Suchmaschinenkonzern Google, heute Alphabet, im Januar 2010 heimlich unter der Leitung von Sebastian Thrun gründete.
Der Stanford-Informatiker hatte sich bereits einen Namen in der KI-Forschung und beim autonomen Fahren gemacht, als die Google-Gründer Larry Page und Sergey Brin ihn für ihr Innovationslabor engagierten. "Sie betrachteten zwei Fälle: Innovationen innerhalb eines bestehenden Geschäftszweigs einerseits und disruptive Innovationen für Neues andererseits", so Thrun. "Dafür brauchten wir eine separate Einheit, die solche Projekte entwickeln und zu echten Unternehmen ausbauen konnte." Der gebürtige Deutsche Thrun setzte dabei auf klare Regeln für Aufbau, Management und Projektauswahl. "Zunächst haben wir ein halbes Jahr lang technologische und wirtschaftliche Potenziale analysiert", berichtet er. "Unsere Kernfragen: Wie können wir in einem Bereich sinnvolle Fortschritte erzielen? Ist die Technologie einigermaßen ausgereift und stimmt der Zeitpunkt?" Etwa die Hälfte aller Ideen wurde nach dieser Prüfphase verworfen. Für diejenigen, die es über die erste Hürde geschafft hatten, gab es "maximale Handlungsfreiheit", so Thrun. Die Teams blieben bewusst klein: Jedes Projekt bekam einen Leiter, der drei bis vier herausragende Uni-Absolventen einstellen sollte. Das Versprechen war stets dasselbe: Kommen Sie ins Silicon Valley und verwirklichen Sie das Projekt Ihrer Träume! Sie müssen sich nicht um die Finanzierung und die Berichterstattung kümmern, es gibt nie eine PowerPoint-Präsentation.
In der Anfangsphase entwickelten drei bis fünf Experten das Konzept, für die Entwicklung eines Prototyps wurde das Team auf bis zu 15 Mitarbeiter aufgestockt. Bei der Markteinführung wurde es dann deutlich größer, erklärt Thrun. So beschäftigte Google X in seiner Hochphase 500 bis 600 Mitarbeiter. Um die Kontrolle zu behalten, betreute Thrun nie mehr als sechs Projekte gleichzeitig und investierte in jedes einen Arbeitstag pro Woche.
Auch der Standort war wichtig. "Man muss so nah wie möglich an den Entscheidern sein", betont Thrun. "Wenn der CEO für Innovationen und technischen Fortschritt brennt, sollte man häufig mit ihm sprechen, um von seiner Erfahrung und seinem Weitblick zu profitieren." Für Google X hieß das: ein unauffälliges Gebäude neben der Konzernzentrale in Mountain View. Dessen wahre Funktion blieb der Öffentlichkeit bis zu einem Bericht der New York Times im Jahr 2011 verborgen. Thrun schirmte sein Team konsequent ab: "Wir hielten das Projekt auch innerhalb von Google geheim. So haben wir verhindert, dass ständig Mitarbeiter vorbeikamen, die helfen wollten."
Doch Leidenschaft allein reichte nicht. Von den frühen Projekten entwickelte sich vor allem das autonome Fahren zum Erfolg: Waymo wurde zu einem florierenden Geschäftsfeld der Google-Mutter Alphabet. Die meisten anderen Zukunftsprojekte verliefen nicht so erfolgreich. Besonders diejenigen, die weit vom Kerngeschäft entfernt waren, wie Energie erzeugende Drachen oder die Produktion von grünem Treibstoff aus Meerwasser. Auch bei marktnahen Tech-Innovationen gab es Rückschläge: Die Datenbrille Google Glass scheiterte nach massiver öffentlicher Kritik. [Mehr über die Philosophie hinter den Projekten von X in unserem Interview mit X-Mitgründer Astro Teller.] Thrun zieht aus seiner Zeit bei Google eine zentrale Lehre: "Man muss von Anfang an das wirtschaftliche Umfeld und die Kaufentscheidungen der Kunden wirklich verstehen."
Ein unzureichender Fokus auf Vermarktung und Produkteinführung ist der Kardinalfehler derart ambitionierter Projekte, meinen Kritiker. "Innovationslabore sind ein Auslaufmodell", urteilt etwa der Innovationsexperte Steve Blank, der die geheimen Forschungseinheiten der Konzerne "Innovationstheater" nennt: inszeniert für Schlagzeilen und steigende Aktienkurse. "Bis Mitte dieses Jahrhunderts werden nur noch solche Unternehmen separate Innovationslabore betreiben, die es nicht geschafft haben, Innovation in ihre DNA zu integrieren und kontinuierlich Innovationen hervorzubringen."
Einen zukunftsweisenden Ansatz für Innovationsführerschaft leben laut Blank Unternehmen vor, die bestehende Märkte bedienen und zugleich neue Ideen entwickeln. Das Musterbeispiel ist für ihn SpaceX. "Das Unternehmen vereint erfolgreich zwei Bereiche", erklärt er: ein zuverlässiges Raketengeschäft, das jede Woche Fracht mit Falcon-9-Raketen ins All befördert, und eine experimentelle Abteilung, die Raketen testet und dabei gezielt auch Explosionen in Kauf nimmt. "Wenn keine Raketen explodieren, wird nicht innovativ genug gearbeitet. Und wenn nicht regelmäßig etwas in die Luft fliegt, ist das Innovationstempo zu langsam", sagt er.
Für Blank liegt der Erfolg in der Verzahnung beider Bereiche. "Die Falcon-9-Teams wissen, dass der Riesenrakete Starship die Zukunft gehört und dass Experimente irgendwann zum Standard werden. Für mich ist das ein Paradebeispiel, wie ein Unternehmen eine komplexe Organisation mit systematischer Innovation verbindet. Sie haben praktisch ein Wagniskapital-Portfolio im eigenen Haus."
Noch konsequenter argumentiert der indischstämmige Technologieunternehmer und Wissenschaftler Vivek Wadhwa. Er hält alle Forschungs- und Innovationszentren in Unternehmen für reine Ressourcenverschwendung. "Das sind die am wenigsten effektiven und inkompetentesten Abteilungen überhaupt. Die Mitarbeiter werden für Patentanmeldungen und nutzlose Projekte belohnt, statt echte Produkte zu entwickeln", kritisiert er. Sie haben jeden Bezug zur Realität verloren." Stattdessen sollte laut Wadhwa der Innovationsgeist das ganze Unternehmen durchdringen. "Ich rate Großunternehmen immer, kleine Teams aus verschiedenen Abteilungen zu bilden: mit Mitarbeitern aus den Bereichen Marketing, Entwicklung und Finanzen. Gründen Sie Hunderte kleine Innovationsteams, statten Sie sie mit überschaubaren Budgets aus und schauen Sie, was dabei herauskommt. Ich habe noch nie ein F&E-Team mit mehr als sieben Personen gesehen, das effektiv gearbeitet hat."
Die verschiedenen Innovationsteams zu verknüpfen, sie von der allgemeinen Bürokratie fernzuhalten und gleichzeitig eng mit der Unternehmensleitung zu verzahnen, sei indes ein heikler Balanceakt, räumt Saffo ein: "Unternehmen müssen innerhalb ihrer Strukturen eine Art Innovationsrepublik erschaffen. Sie brauchen eine vielfältige Gemeinschaft, die auch Störungen zulässt." Das habe den zusätzlichen Vorteil, dass man die klügsten Köpfe an sich bindet, damit sie nicht abwandern. Klassische Innovationslabore gibt es zwar noch, doch viele Unternehmen setzen inzwischen auf andere Ansätze: Sie beobachten Start-ups und investieren schnell über ihre Venture-Capital-Abteilungen oder übernehmen sie komplett, um sich deren Talente und Patente zu sichern. Andere Konzerne kooperieren mit Universitäten. "Großunternehmen haben erkannt, dass kleine Teams und Start-ups oft innovativer sind als sie selbst", sagt Wadhwa. Besonders Tech-Konzerne setzen auf Zukäufe. Google übernahm im Zeitraum von 2000 und 2024 insgesamt 222 Unternehmen, Microsoft kaufte 140 junge Firmen und Apple 102.
Dennoch hat die Idee der geheimen Entwicklungsabteilung bis heute wenig von ihrer Strahlkraft verloren. Ford-Chef Jim Farley kündigte Anfang 2024 die Gründung eines speziellen Innovationslabors mit 300 Mitarbeitern an. Er setzt große Hoffnungen auf dieses Team, das in Südkalifornien, fernab der Konzernzentrale in Michigan, an der nächsten Generation von E-Autos arbeitet. Der Vorteil der eigenständigen Einheit laut Farley: "Sie denken nicht in den traditionellen Mustern wie ich als altgedienter Automanager." Das ist ein durchaus mutiges Bekenntnis, wenn man bedenkt, dass Ford 2024 mit rund fünf Milliarden US-Dollar Verlust beim Geschäft mit E-Autos rechnet.
Wer nur auf die unmittelbare Rendite von Innovationslaboren schaut, ist vielleicht nicht weitsichtig genug. Letztlich treibt jede innovative Einrichtung den technologischen Fortschritt und die wirtschaftliche Entwicklung voran, meint PARC-Chronist Michael Hiltzik. "Die Xerox-Führung hatte zwar den Mut, ihre Forscher frei arbeiten zu lassen. Doch sie wusste einfach nicht, was sie mit den Erfindungen anfangen sollte. Es war ein völlig neues Geschäftsfeld, dessen Potenzial damals niemand erkannte", sagt Hiltzik. Und so griffen andere Unternehmen wie Apple die Ideen auf – und ebneten damit den Weg ins digitale Zeitalter.
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