Ein neuer Bauplan für Innovation
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Die aktuelle Ausgabe von Think:Act macht uns in einer Ära knapper Ressourcen und Unsicherheit fit für die Innovationen der Zukunft.
von Steffan Heuer
Illustrationen von Clo'e Floirat
Der Wissenschaftler Carlos Moreno hat ein Konzept für urbanes Leben entworfen: die "15-Minuten-Stadt". Doch ist es eine alte Idee, deren Zeit endlich gekommen ist – oder nur eine Utopie in einer vom Auto dominierten Welt?
Carlos Moreno führt ein gutes Leben. Seine geräumige Wohnung in einem historischen Gebäude im 6. Arrondissement von Paris bietet einen Blick auf die Seine und den Louvre. In nur 15 Gehminuten Entfernung finden sich mindestens 20 Restaurants und noch mehr Bars, ein Dutzend Ärzte, mehrere Supermärkte und neun Bildungseinrichtungen. Kurz gesagt: Alles, was man braucht, ist gut zu Fuß oder mit dem Fahrrad zu erreichen. Für weitere Strecken stehen zahlreiche öffentliche Verkehrsmittel zur Verfügung. Und der Jardin des Tuileries bietet gepflegte Grünflächen: ein urbanes Idyll in einer der schönsten Städte der Welt.
Für Moreno, einen in Kolumbien geborenen Akademiker, der die vergangenen 45 Jahre in Paris verbracht hat, ist der schnelle Zugang zu allen notwendigen Dienstleistungen und Einrichtungen mehr als eine persönliche Entscheidung. Es ist seine Mission. Carlos Moreno ist zum Missionar eines Konzepts für die Stadterneuerung geworden: der 15-Minuten-Stadt. Unter diesem Titel erschien im vergangenen Jahr auch sein neues Buch. Der Klimawandel und die Folgen der Corona-Pandemie verschaffen Morenos Ideen weltweit Gehör.
Seine Vision preist Moreno als "Konzept für lebenswerte Städte" an. Er wurde so zum Liebling von Bürgermeistern, Architekten, Stadtplanern und politischen Entscheidungsträgern auf der ganzen Welt. Während er prestigeträchtige Auszeichnungen sammelt und auf Klimakonferenzen spricht, bezichtigen ihn Verschwörungsgläubige als Wegbereiter übermächtiger staatlicher Kontrolle. "Ich bin nicht der Erste, der eine menschengerechte Lebensweise für Städte vorschlägt", sagt Moreno während unseres Interviews in seinem Pariser Wohnzimmer. Er hat eine ruhige, zugleich bestimmende Präsenz, seine kurz geschnittenen grauen Haare passen zum Bart. "Im 21. Jahrhundert ist der Klimawandel zur wichtigsten Frage überhaupt geworden. Das verändert unsere Vorstellung von der Stadt der Zukunft grundlegend. Wir leben in einer multipolaren Welt mit sehr vielen Unsicherheiten. Städte werden zur entscheidenden Kraft für eine lebenswertere Welt. Nur wenn wir digitale Technologien nutzen und unsere Lebensweise grundlegend ändern, können wir den Klimawandel bewältigen", sagt Moreno.
Die 15-Minuten-Stadt braucht keinen medienerfahrenen Bürgermeister.
Der ehemalige Journalist Patrick Bernard investiert sein Erspartes in ein "Drei-Minuten-Viertel" im 14. Arrondissement von Paris. Das im Jahr 2017 gestartete Projekt "La République des Hyper Voisins" bindet die Anwohner des Viertels mit Chat-Gruppen, Veranstaltungen und Öko-Initiativen ein. Bernard möchte "Nähe durch Vertrauen schaffen" und sitzt dafür fast jeden Tag in einem Restaurant, um sich mit Nachbarn auszutauschen.
Bernards Idee kommt gut an. Die Stadt unterstützt das Hyper-Voisins-Projekt finanziell und prüft, ob es sich ausweiten lässt. Auch US-Tech-Unternehmen, die Menschen "verbinden" wollen, haben sich schon in Paris gemeldet, von Nextdoor bis Facebook. Patrick Bernard jedoch will bewusst klein und fokussiert bleiben. "Ich bin einfach ein Freund der Nachbarschaft. Die 15-Minuten-Stadt braucht Drei-Minuten-Viertel, und davon viele."
Und wer könnte besser geeignet sein, diese Aspekte zu vereinen? Morenos Lebensweg führte ihn vom revolutionären Eifer zur Präzision eines Technokraten. Die Vertreibung seines Vaters, eines Bauern, von seinem Land in die damals expandierende Stadt Cali während der politischen Unruhen im Südamerika der 1970er-Jahre prägte ihn früh. Moreno, eines von sieben Kindern, entdeckte seine Begabung für Mathematik und Physik. Nach einem kurzen Engagement in linken Studentengruppen schloss er sich der kolumbianischen Stadtguerilla M-19 an, bevor er im Alter von 20 Jahren aus Kolumbien floh. 1979 kam er nach Paris und promovierte in Mathematik und Informatik.
"Die großen Themen sind Klimawandel, Ausgrenzung und Armut. Der Schlüssel zu allen drei Problemen liegt in unseren Städten."
Als junger Forscher machte er sich schnell einen Namen als Experte für die intelligente Steuerung komplexer Systeme. "Heute würde man es KI nennen, aber damals sprach man von Expertensystemen und Mechatronik", sagt Moreno. Als eines der ersten französischen Universitäts-Spin-offs gründete sein Team 1998 Sinovia: ein Start-up, das Morenos Forschung zur Automatisierung von Kernkraftwerken und kritischer Infrastruktur nutzte. "Damals wandte ich mich erstmals den Städten zu, um ihre komplexe Infrastruktur zu steuern, von der Straßenbeleuchtung und Ampeln bis zur Optimierung von Wasser- und Abfallströmen", erzählt Moreno. Im Jahr 2010 übernahm der französische Versorgungskonzern GDF Suez (heute Engie) das Unternehmen und seine Mitarbeiter. Moreno blieb noch fünf Jahre lang wissenschaftlicher Berater der Unternehmensführung, bevor er die Firma verließ. "Ich stimmte diesem Deal zu, aber im Herzen bin ich ein Forscher, kein Unternehmer."
Der Abschied aus der Wirtschaft führte Moreno 2015 zurück an die Sorbonne – und zu einer Erkenntnis: Nicht Sensoren und Server allein machen die großen Städte lebenswerter, sondern mehr soziale Gerechtigkeit im globalen Kontext. "Die Tech-Giganten von Cisco bis IBM sind mit ihren Lösungen gescheitert", bilanziert er. Den entscheidenden Anstoß gab Muhammad Yunus' Buch A World of Three Zeros. "Plötzlich verstand ich, dass die großen Themen der Menschheit der Klimawandel, die Ausgrenzung und die Armut sind", erklärt Moreno. "Und der Schlüssel zu allen drei Problemen liegt in unseren Städten."
Aus dieser Erkenntnis entwickelte er die Idee einer Stadt, in der alles Lebenswichtige nur einen Steinwurf entfernt ist. In seinem 2024 erschienenen und mittlerweile in zehn Sprachen übersetzten Buch beschreibt Moreno Städte als Orte der Begegnung und des Austauschs, in denen Nähe und Gemeinschaft die zunehmende Vereinsamung und Überfüllung ersetzen. Ein Kernstück seiner städtischen Neugestaltung ist die selbstbestimmte Mobilität, ein Leben ohne Auto. Während Moreno seine Vision mit Daten und digitalen Karten aus drei Pariser Vierteln untermauerte, kamen ihm die Klimapolitik und das Weltgeschehen zu Hilfe.
Die Pariser Bürgermeisterin Anne Hidalgo wandte sich im Herbst 2018 an Moreno und bat um seinen Rat, wie Paris zur ersten 15-Minuten-Stadt der Welt werden könnte. Denn das ehrgeizige Ziel passte gut zum Klimaresilienzplan der Stadt, zum Bike-Sharing und anderen fortschrittlichen Initiativen. Kaum hatte man das Konzept Anfang 2020 vorgestellt, veränderte Covid-19 das urbane Leben grundlegend. Lockdowns und Homeoffice prägten die Städte, die Folgen sind bis heute spürbar.
Den Lockdown von Millionen Menschen nutzte Moreno geschickt, um sein Thema voranzutreiben. "Die Gesundheitskrise eröffnet die Chance, das Konzept der 15-Minuten-Stadt neu zu denken, schrieb er in Le Monde, nur drei Tage nachdem die Ausgangskontrollen Paris nahezu zum Stillstand gebracht hatten. Die Resonanz folgte prompt: Einen Monat später meldete sich die globale Städteallianz C40. Im Juli erklärte die Allianz sein Konzept zum Masterplan für die Post-Corona-Ära.
Die ersten Auszeichnungen ließen ebenfalls nicht lange auf sich warten: Im Oktober 2021 erhielt er den renommierten Obel Award für wegweisende Beiträge zur Stadtarchitektur, ein Jahr später den UN-Habitat Scroll of Honor Award der Vereinten Nationen. Staatsoberhäupter und Bürgermeister aus aller Welt suchten seinen Rat bei der Neugestaltung ihrer Städte. Dabei zeigte sich: Das eine Modell für die 15-Minuten-Stadt gibt es nicht, denn jede Kommune passt die Grundidee an ihre Bedürfnisse und Zeitpläne an. Für Moreno hätte der Zeitpunkt günstiger nicht sein können, als er sein Konzept einer lebenswerten Stadt inmitten sich überlagernder Krisen neu formulierte. "Ich stehe in einer Denktradition, die bis ins 19. Jahrhundert zurückreicht", erklärt er. Die Frage, was Städte zum guten Leben brauchen, beschäftigt Intellektuelle, seit die Moderne Menschen voneinander isoliert. Zu den Pionieren gehörte Sir Ebenezer Howard, Initiator der Gartenstadt-Bewegung. Seine Vision von Vorstädten mit breiten Alleen und Grünflächen wurde bereits 1904 und 1920 in den britischen Städten Letchworth und Welwyn Wirklichkeit, inspiriert von seinem 1898 erschienenen Manifest Tomorrow: A Peaceful Path to Real Reform.
Mit dem Siegeszug des Automobils wurden die Straßen in den Städten breiter, ganze Viertel und Nachbarschaften wurden so zerstört. Doch es formierte sich auch Widerstand. Zur einflussreichsten Kritikerin der autogerechten Stadt avancierte die Journalistin und Aktivistin Jane Jacobs. Ihr 1961 im englischen Original erschienenes Buch Tod und Leben großer amerikanischer Städte entwickelte sich zum Manifest gegen die autozentrierte Stadterneuerung.
Die Liebe zum Automobil ist jedoch bis heute ungebrochen. Viele Menschen wollen sich in ihrer Mobilität nicht einschränken lassen, schon gar nicht von einem privilegierten Professor, der ihnen das Zu-Fuß-Gehen oder Radfahren ans Herz legen will. So wurde die 15-Minuten-Stadt zur Projektionsfläche für Verschwörungsmythen: Von London bis Los Angeles verunglimpften Kritiker Morenos Konzept als staatliche Zwangsmaßnahme, mit der Menschen in ihren Vierteln eingesperrt werden sollen. Die Stimmung heizte sich zeitweilig so auf, dass Moreno nach Morddrohungen unter Polizeischutz gestellt werden musste. "Diese Leute gehören zur gleichen Gruppe wie Klimawandelleugner und Impfgegner", sagt Moreno. "Ich bin nur ein Teil eines dunklen Puzzles, das die extreme Rechte seit Jahren zusammensetzt."
"Morenos Ideen finden Anklang, weil Einsamkeit ein globales Phänomen ist und das Auto die Isolation weiter fördert."
Aber auch längst nicht alle Forscher und Stadtplaner sind davon überzeugt, dass Morenos modernisierte Version des beschaulichen Dorfangers über typische europäische Metropolen wie Paris, Mailand oder Barcelona hinaus funktionieren kann. Diese Städte, mit ihrer jahrhundertealten Entwicklung, ihren dicht besiedelten Zentren und ihrer traditionell fußgängerfreundlichen Struktur, bieten ideale Voraussetzungen für das Konzept der kurzen Wege. Viele Großstädte jedoch, besonders in den Vereinigten Staaten, entstanden rund um Autobahnen und einen Ring autonomer Vororte. Die Menschen erreichen dort zwar alle Dienstleistungen und Einrichtungen, aber die Infrastruktur ist auf den Individualverkehr mit dem Auto ausgelegt und nicht auf Fußgänger und Radfahrer.
"Morenos Ideen finden Anklang, weil Einsamkeit ein globales Phänomen ist und das Auto die Isolation der Menschen weiter fördert und sehr viel Land verbraucht", erklärt Adie Tomer vom Washingtoner Thinktank Brookings Institution, der sich mit Infrastrukturpolitik und Stadtökonomie beschäftigt. Die alltägliche Realität der meisten Amerikaner sieht jedoch anders aus. Als Tomers Team die Alltagswege der Menschen in den 110 größten US-Metropolregionen untersuchte, stellte sich heraus, dass nur ein Drittel die sogenannten "Aktivitätszentren" in 15 Minuten mit dem Fahrrad erreichen konnte. Also fahren sie mit dem Auto. Nach Tomers Daten legte der durchschnittliche US‑Amerikaner im Jahr 2019 täglich 64 Kilometer zurück – eine Distanz, die das Konzept der 15-Minuten-Stadt grundsätzlich infrage stellt und die tief verwurzelte Abhängigkeit der US-Gesellschaft vom Automobil verdeutlicht.
Den meisten Orten fehlt einfach die Dichte, ohne die Morenos Idee nicht funktionieren kann. Deshalb müssen wir "für mehr Nähe bauen", schlägt Tomer vor. "Wir müssen die irreführende Zeitmessung durch die zurückgelegte Entfernung ersetzen. Sonst verstehen es die Leute nicht", argumentiert er. Um eine Auto-Kultur wie in den Vereinigten Staaten anzusprechen, sieht er auch die Möglichkeit, anders zu bauen, um der heutigen Zersiedelung der Landschaft etwas entgegenzusetzen: "Wir sind eine Gesellschaft, die offen ist für Modernisierungen. Alte Gebäude sehen wir nicht als sonderlich wertvoll an."
Stadtforscher weisen auf ein weiteres Problem hin: Eine Einschränkung der Mobilität für alle kann dazu führen, dass Menschen in ihren angestammten Vierteln bleiben und die soziale Segregation verschärft wird, was insbesondere zulasten einkommensschwacher Bevölkerungsgruppen ginge. Der Harvard-Ökonom Edward Glaeser hat sich gegen Morenos Konzept ausgesprochen und es als "Sackgasse" bezeichnet, denn das Grundkonzept sei eigentlich gar keine Stadt. "Es ist eine Enklave, ein Ghetto", urteilt er. Städte könnten nur dann als "Motoren der Möglichkeiten" gedeihen, wenn ihre Viertel miteinander vernetzt seien.
Oberflächliche Verbesserungen reichen nicht aus, um historische Fehlentwicklungen der Stadtplanung zu korrigieren. Zwar setzen viele Bürgermeister auf populäre und bezahlbare Maßnahmen wie neue Radwege, Aufenthaltsflächen oder die Umnutzung öffentlicher Gebäude. Doch diese Ansätze allein können die systematischen Ungleichheiten nicht beseitigen, die sich über viele Jahrzehnte in der städtischen Struktur verfestigt haben. Als Carlo Ratti, Direktor des MIT Senseable City Lab, die Mobilitätsdaten von 40 Millionen US-Handynutzern auswertete, kam sein Team zu einem eindeutigen Ergebnis: "Die überwältigende Mehrheit der Amerikaner hat noch nie so etwas wie eine 15-Minuten-Stadt erlebt." Tatsächlich führt nur eine von sieben täglichen Fahrten zu lokalen Einrichtungen. Morenos Vision wird nur funktionieren, warnt Ratti, "wenn sie von massiven Investitionen in die Verbesserung der wirtschaftlichen Möglichkeiten und die Verringerung der Wohnsegregation begleitet wird".
Angesichts der Haushaltszwänge, mit denen viele Städte zu kämpfen haben, ist dies eine Mammutaufgabe. Das Experimentieren mit dem urbanen Gefüge bringt eine weitere Herausforderung mit sich, wie Moreno einräumt: Private Investoren stürzen sich auf die gentrifizierten Viertel. "Das ist heute in Paris und in vielen Städten der nordischen Länder der Fall", sagt er. "Wir müssen verhindern, dass die 15-Minuten-Stadt allein privaten Interessen überlassen wird, nur um ein Viertel ohne Rücksicht auf das Gemeinwohl zu sanieren. Es geht nicht darum, Paris zu kopieren, sondern darum, eine lokale Stadtpolitik zu entwickeln."
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