Ein neuer Bauplan für Innovation
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Die aktuelle Ausgabe von Think:Act macht uns in einer Ära knapper Ressourcen und Unsicherheit fit für die Innovationen der Zukunft.
von Neelima Mahajan
Fotos von Winni Wintermeyer
X wurde 2010 von den Google-Gründern Larry Page und Sergey Brin ins Leben gerufen. Die Abteilung hatte von Beginn an eine ehrgeizige Mission: Sie will die großen Probleme der Menschheit mit Technologien lösen, die sich anhören, als entstammen sie einem Science-Fiction-Roman. Ihr Ziel sind "Moonshots": radikal neue, wagemutige Ansätze. In den 15 Jahren seit der Gründung haben die Mitarbeiter von X eine ganze Reihe von Innovationen entwickelt. Einige davon – wie Google Brain – wurden Teil von Google, andere – wie Waymo und Wing – sind heute Töchter der Muttergesellschaft Alphabet. 280 Earth, Malta und weitere X-Ausgründungen sind mittlerweile unabhängige Firmen.
Astro Teller leitet X seit 2010 und verzichtet bewusst auf formelle Titel, er bezeichnet sich als "Captain of Moonshots". Teller prägte bei X eine einzigartige Unternehmenskultur, die Menschen ermutigt, in großen Dimensionen zu denken. Der Wissenschaftler, Erfinder und Unternehmer entwickelte dafür auch ungewöhnliche Positionen wie die eines "Kulturingenieurs".
Der Enkel des Nobelpreisträgers für Wirtschaftswissenschaften Gérard Debreu und des theoretischen Physikers Edward Teller, bekannt als "Vater der Wasserstoffbombe", hat bereits ein beeindruckendes Innovationserbe erschaffen.
Im Gespräch mit Think:Act erläutert er seinen einzigartigen Innovationsansatz, definiert die Merkmale eines Moonshots, erklärt die Führung von Teams bei hochambitionierten Projekten, den Umgang mit Rückschlägen, die Bedeutung des Lernens und weitere zentrale Aspekte seiner Arbeit.
Sie wollen die drängendsten Probleme der Welt lösen, davon gibt es allerdings einige. Wie setzen Sie da die Prioritäten?
Für einen Moonshot, also ein Projekt, das scheinbar Unmögliches möglich machen will, müssen drei Dinge zusammenkommen. Erstens muss es sich um ein wirklich großes globales Problem handeln. Zweitens muss die Lösung nach Science-Fiction klingen, also nach etwas, das zunächst sehr unwahrscheinlich ist. Wir alle bei X müssen überzeugt sein: Wenn wir das hinkriegen, löst das wirklich dieses eine große Problem. Und drittens bedarf es eines technologischen Durchbruchs, der uns den ersten Schritt ermöglicht und eine realistische Chance bietet, dass wir diese Science-Fiction-Lösung entwickeln können.
Technologie ist nicht der einzige Weg zu den Sternen. Manch ein vermeintlicher Moonshot ist in Wahrheit nur Marketing. Aber so arbeiten wir nicht. Als Tech-Unternehmen konzentrieren wir uns auf technologische Lösungen. Das schränkt die Auswahl ein. Außerdem muss die Balance zwischen Unternehmenszweck und Wirtschaftlichkeit stimmen: Es gibt viele gute Ideen, die der Welt nützen. Aber ohne ein tragfähiges Geschäftsmodell kommen sie für uns nicht infrage. Unsere Erfahrung zeigt, dass Verlustbringer früher oder später eingestampft werden. Profitable Projekte hingegen werden weiterverfolgt und ausgebaut. Wer also wirklich Gutes für die Welt bewirken will, muss auch Gewinne erwirtschaften. Gleichzeitig wollen wir sicherstellen, dass unsere Arbeit der Welt tatsächlich nützt. Wir wollen sagen können: Besser als mit diesem Projekt können wir unsere Zeit und Energie nicht für die Menschheit einsetzen. Das ist ein weiterer wichtiger Punkt bei unserer Projektauswahl.
"Verlustbringer werden früher oder später eingestampft. Profitable Projekte hingegen werden ausgebaut."
Wo liegt die Trennlinie zwischen ambitioniert und absurd? Wo stößt man selbst bei X an Grenzen?
Wir haben ein paar Faustregeln, die bei der Unterscheidung helfen. Ein Favorit von mir lautet: "Wir üben uns darin, Unmögliches für möglich zu halten – aber mit Verstand." Wenn also jemand bei X eine Idee vorstellt, die nicht verrückt genug klingt, wird sie meist mit den Worten abgelehnt: "Was du vorschlägst, klingt vernünftig. Deshalb machen wir es definitiv nicht, denn das ist nicht unsere Aufgabe. Das wird jemand anderes machen." Kommt jemand mit einem völlig utopischen Vorschlag daher wie: "Hey, lasst uns eine Zeitmaschine bauen", dann reicht schon die Frage: "Wo sollen wir anfangen?" Antwortet die Person: "Keine Ahnung", haben wir keine überprüfbare Hypothese.
Wir wollen das Verhältnis zwischen Chancen und Risiken optimieren. Wenn also jemand einen Teleporter vorschlägt und ein anderer eine Pille gegen Krebs, dann sind wir für beides offen. Beide Ideengeber legen uns zunächst dar, warum ihre Lösung einen Durchbruch für die Menschheit bringen könnte. Dann fragen wir: "Welche Risiken gibt es?" Das können rechtliche Hürden sein, hohe Kosten, der Zeitaufwand oder unbeabsichtigte Folgen. Bei beiden Projekten gehen wir die Risiken durch und entscheiden dann: "Wir können nicht alles machen, also bewerten wir die Vorschläge." Welcher Vorschlag hat das bessere Chancen-Risiko-Verhältnis? Anfangs verfolgen wir vielleicht beide Ideen. Ich leite also das Projekt zur Krebstherapie, ein anderer Mitarbeiter das Teleporter-Projekt, und wir beide müssen in den nächsten drei bis sechs Monaten konkrete Ergebnisse liefern.
Die zeigen entweder, dass meine Idee verrückter war als gedacht und wir sie besser ruhen lassen, oder dass sie gar nicht so abwegig ist. Dasselbe gilt für den Teleporter. Nach einem halben Jahr sehen wir anhand der Ergebnisse, welches Projekt wir einstellen und in welches Vorhaben wir mehr investieren sollten.
Angenommen, ich arbeite an einem Projekt mit klar definierten Chancen und Risiken. Ein Kollege bei X hat indes eine Idee, die doppelt so riskant ist, aber den vierfachen Nutzen verspricht. Theoretisch hat seine Idee also doppelt so viel Potenzial wie meine. Logisch wäre es also, meine Idee aufzugeben und auf die Idee des Kollegen mit doppelt so großen Chancen zu setzen. Klingt in der Theorie einfach. Aber nennen Sie mir ein Unternehmen, das tatsächlich so handelt. Auch wir sind hier nicht perfekt, aber genau das streben wir an. Im Grunde schätzen wir nur die Gewinnchancen ab.
Große, hochambitionierte Projekte brauchen Geduld. Wie viel Zeit bekommt ein Projekt, bis erste Erfolge sichtbar werden müssen?
Wenn Sie zum Beispiel bei X an einem Teleporter arbeiten würden, wäre ein Jahrzehnt für mich kein Problem, wenn das Ding dann funktioniert. Ein Jahrzehnt bis zur ersten Erkenntnis, ob es überhaupt funktionieren kann, das ist ein Problem. Deshalb werde ich alle drei Monate fragen, was Sie herausgefunden haben und was uns das über das Verhältnis von Chance und Risiko sagt. Das kann ein Jahrzehnt dauern, vielleicht auch 20 Jahre, ich weiß es nicht. Was mich viel mehr interessiert, ist der Erkenntnisgewinn pro US-Dollar. Wenn Sie schneller, effizienter und ganzheitlicher vorankommen als andere Projekte, dann machen wir weiter.
"Ein Jahrzehnt bis zum Erfolg ist kein Problem. Ein Jahrzehnt bis zur ersten Erkenntnis, das ist ein Problem."
Wir streben nach geduldiger Ungeduld. Wir können geduldig an Projekten arbeiten, die zehn Jahre Zeit brauchen, aber wir suchen jeden Tag ungeduldig nach neuen Erkenntnissen. Bei X denkt niemand, er hätte zehn Jahre Zeit für seine Arbeit. Man sollte keine Mentalität entwickeln, die das Überleben bis zum nächsten Tag in den Mittelpunkt rückt. Denn genau das führt dazu, dass in den meisten Projekten nur Leitern zum Mond und keine Raketen entwickelt werden. Wenn ich sage: "Zeigen Sie mir bis morgen, dass Sie dem Mond näher gekommen sind", werden Sie eine Leiter bauen und sagen, die Leiter sei jetzt etwas höher. Aber so erreichen wir den Mond nie. Der richtige Ansatz ist, darüber zu sprechen, wie wir in den nächsten 10 bis 20 Jahren zum Mond kommen. Sprechen wir darüber, was Sie gelernt haben und wie wir das Risiko der Mondlandung minimieren. Es ist in Ordnung, wenn Sie den Mond noch nicht erreicht haben. Aber beim Lernen sollten wir ungeduldig sein.
Welche Mechanismen stellen sicher, dass Know-how ins Unternehmen einfließt und nicht nur bei der Person bleibt, die das Projekt bearbeitet?
Ein wesentlicher Teil unserer Arbeit besteht darin, dass wir alle Fehlschläge systematisch dokumentieren. Jedem Misserfolg folgt eine Analyse, die wir in unseren "Tales From The Crypt" sammeln. In diesem Verzeichnis sind alle Projekte aufgelistet, die bei X begraben wurden. Mittlerweile sind es mehr als tausend. An Halloween öffnen wir die Gruft mit einer Party. Wir diskutieren dann über unsere Versuche, unsere Beweggründe, die Ursachen ihres Scheiterns und unsere Lehren daraus. So wird der Umgang mit dem Scheitern in der Unternehmenskultur verankert.
Wir nennen diesen Prozess auch Moonshot-Kompost. Wenn wir ein Projekt beenden, bleiben die Mitarbeiter, die Patente, der Code und aufgebaute Partnerschaften bei X. Die Erkenntnisse aus der Abschlussanalyse und andere Projektergebnisse fließen zurück in eine Art Ursuppe, in unseren Nährboden. Dass wir heute eine überragende Netzwerklösung haben, verdanken wir all unseren früheren Fehlschlägen und den daraus gewonnenen Erkenntnissen. Wenn die Leute das Prinzip des Moonshot-Komposts verstehen, fällt es ihnen leichter, das Beenden eines Projekts zu akzeptieren. Es war ja nicht alles umsonst. Außerdem lernen sie, im vorhandenen Nährboden zu suchen, statt alles von Grund auf neu zu erfinden.
Wie gestalten und pflegen Sie diese besondere Unternehmenskultur?
Das ist ein fortlaufender Prozess und meine Hauptaufgabe. Ich sehe mich als Kulturingenieur. Und ich finde, dass viele CEOs das auch zumindest teilweise sein sollten. Man muss Wege finden, Hunderte von Signalen zu senden: manche sehr subtil, manche humorvoll wie unsere "Tales from the Crypt" Party, andere klar strukturiert, etwa in schriftlich fixierten Dokumenten. In den Lobbys der meisten Unternehmen stehen Vitrinen mit Produkten. Zu sehen ist fast immer das fertige Produkt – die glänzendste, schönste Version dessen, was sie geschaffen haben. Unsere Vitrinen zeigen die erste, hässlichste, zusammengeschusterte Version von Dingen, die später erfolgreich wurden, und auch von solchen, die nie funktioniert haben.
Wir machen das, um den Wert des Erkenntnisprozesses zu betonen. Bei X erwarte ich von Ihnen, dass Sie bewusst an Projekten mit einer Erfolgsaussicht von nur 1 % arbeiten. Wenn Sie glauben, nur Erfolge würden belohnt, werden Sie unglücklich, denn die Chance zu scheitern liegt bei 99 %. Sie müssen zutiefst davon überzeugt sein, dass unser Ansatz Sinn ergibt. Würden wir nur glänzende Erfolge in der Vitrine ausstellen, würde ein Teil von Ihnen – zumindest unbewusst – spüren, dass wir den Prozess nicht wirklich wertschätzen und nur auf das Endergebnis stolz sind. Dieses Prinzip muss alles im Unternehmen durchdringen, von Beförderungen bis zur Teamstruktur.
"Bei X erwarte ich von Ihnen, dass sie bewusst an Projekten mit einer Erfolgsaussicht von nur einem Prozent arbeiten."
Viele Unternehmen stellen brillante Talente ein, aber viele passen dann später nicht ins Team. Stellen Sie nach Fähigkeiten ein oder berücksichtigen Sie stärker, ob jemand zu Ihrer Kultur passt?
Natürlich checken wir den IQ und fragen nach bestimmten Fähigkeiten, aber unser Schwerpunkt liegt woanders. Wir prüfen vor allem, ob die Kandidaten furchtlos, teamfähig, bescheiden und lernbereit sind. Wir wollen sichergehen, dass sie unsere Arbeitsweise wirklich schätzen. Für unsere Mondlandungen brauchen wir eine besondere Mischung aus Mut und Furchtlosigkeit, gepaart mit echter Demut. Um eine Chance von eins zu hundert zu nutzen, muss man sie nicht nur sehen, sondern auch den Mut haben, sie zu ergreifen. Wir leiten dabei an und übertragen Prozessverantwortung. Wer glaubt, schon alles zu wissen, wird bei uns nicht glücklich werden.
Welche Rolle spielt die Vertrauenskultur dabei?
Vertrauenskultur bedeutet nicht, dass Ihnen unter keinen Umständen jemals etwas Negatives widerfahren wird. Sie ist vielmehr das Versprechen der Organisation und des Umfelds, in dem Sie sich befinden, dass Ihre Worte nicht gegen Sie verwendet werden – solange Sie respektvoll bleiben. Dann können Sie offen Ihre Meinung äußern. Denn wir wollen einen freien Austausch von Ideen ermöglichen, in dem Ihre und meine Gedanken aufeinandertreffen und die Funken, die daraus entstehen, den wahren Mehrwert liefern. Wenn Sie Elektrochemiker sind und bei X arbeiten und Ihr Projekt zu Ende geht, kann ich Ihnen keine neue Position bei X garantieren. Das hängt davon ab, ob wir an anderer Stelle einen Elektrochemiker benötigen. Aber das darf kein Grund sein, nicht ehrlich über den Erfolg Ihres Projekts zu sprechen. Vertrauenskultur bedeutet nicht: Ich habe einen garantiert sicheren Arbeitsplatz. Vertrauenskultur bedeutet vielmehr: Ich werde als Person wahrgenommen und für meine Ideen geschätzt.
Wie stellen Sie funktionierende Teams zusammen?
Ein leistungsstarkes Team zusammenzustellen und zu halten ist große Kunst. Das ist eine zentrale Aufgabe jeder Führungskraft bei X. Ja, bei uns ist vieles im Fluss. Aber würde ich zum Beispiel das Teleporter-Team leiten, wäre meine Botschaft klar: "Herzlich willkommen! Das sind unsere Werte und ihr Bezug zur X-Kultur. Wir wollen eure Ideen hören, auch zur Unternehmenskultur. Aber ihr müsst Teil des Teams sein. Denn es geht nicht um meine oder eure einzelnen Vorstellungen. Es geht darum, was wir gemeinsam erreichen können. Wenn ihr irgendwann nicht mehr mit Begeisterung dabei seid, schaut euch bei X nach einem anderen Team um. Und wenn wir euch zu groß werden und ihr lieber wieder an kleineren Projekten arbeiten wollt, dann wechselt. Bleibt bitte nicht in meinem Team."
Wie teilen Sie Ihre Zeit zwischen Moonshots und Teamführung auf?
Gerne würde ich mehr Zeit in die Moonshots selbst investieren. Ich helfe bei der Technik, beim Storytelling und bei Partnerschaften. Aber das macht nur etwa ein Fünftel meiner Zeit aus. Ein Großteil meiner Arbeit ist organisationsübergreifend, um die Funktionsfähigkeit des Unternehmens zu sichern und strategische Themen so umzusetzen, dass sie eine Grundlage schaffen, auf der die Führungskräfte einzelner Projekte erfolgreich arbeiten können. Die meiste Zeit verbringe ich als Mentor, ein erheblicher Teil entfällt noch auf meine Rolle als Führungskraft und Managementaufgaben.
X ist eine unkonventionelle Einheit, die mit einem größeren Konzernumfeld verbunden ist. Wie gelingt die Integration von erfolgreichen Experimenten in den Mutterkonzern?
Google ist ein großer Konzern mit vielen Geschäftsfeldern. Seit 2015 ist Google eine Tochter des neu gegründeten Mutterkonzerns Alphabet, der alle Zukunftsprojekte bündelt. Die Aufgabe von X ist nicht, Google zu dienen – deshalb sind wir kulturell und operativ von Google getrennt. Unsere Aufgabe ist es, neue Problemfelder und globale Herausforderungen für Alphabet zu identifizieren und hoffentlich auch Lösungen dafür zu finden. Diese kulturelle und operative Trennung ermöglicht unseren besonderen Ansatz. Google kann sich auf sein Kerngeschäft konzentrieren. Das funktioniert für beide Seiten. Natürlich gibt es Ausnahmen wie Google Brain. Das ist eine Entwicklung von X, die bei Google ein perfektes Zuhause gefunden hat. Aber meistens entwickeln wir eigenständige Unternehmen wie Waymo oder Wing. Diese Spin-offs gehören zur Muttergesellschaft Alphabet, nicht zu Google. Tatsächlich siedeln wir sie zunehmend komplett außerhalb von Alphabet an.
Auch wenn manchmal Projekte zu Google zurückkehren, ist das nicht unser Ziel. Alphabet wäre sehr zufrieden, wenn wir nie wieder etwas an Google zurückgeben würden. Wir arbeiten an extrem ehrgeizigen Themen, die die Welt verbessern und zu einem dauerhaften Geschäftserfolg werden können. Wir verbessern ständig die Art und Weise, wie wir diese Projekte als eigenständige Unternehmen aufstellen können – außerhalb von Alphabet, aber in strategischer Partnerschaft. So können sie schneller und unabhängiger agieren.
Die aktuelle Ausgabe von Think:Act macht uns in einer Ära knapper Ressourcen und Unsicherheit fit für die Innovationen der Zukunft.