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Deutsche Energiewirtschaft zwischen Gestalten und Hoffen

Deutsche Energiewirtschaft zwischen Gestalten und Hoffen

2. September 2022

Die Strompreise steigen und die (Gas-)Versorgung wird kritisch: Steht die Energiewende auf der Kippe?

Nur wenige Branchen stehen derart unter Transformationsdruck wie die deutsche Energiewirtschaft. Das noch von der vorherigen Bundesregierung formulierte Ziel, bis 2045 Klimaneutralität zu erreichen, erfordert auch einen klimaneutralen Umbau der Energieversorgung. Diese Entscheidung führt bereits sichtbar zu einem massiven Umbau vieler Energieversorger, etwa durch Abspaltungen von Geschäftsbereichen für mehr strategische Flexibilität und Wertschöpfung.

Bild von Windmühlen
Der von der Regierung geforderte schnellere Ausbau alternativer Stromerzeugung könnte ins Stocken geraten, falls die derzeit akute Materialknappheit und die globalen Lieferkettenprobleme weiter anhalten.
"Der Wegfall langfristiger Gaslieferverträge bleibt für etliche Energieunternehmen weiterhin ein Risiko. Politik und Kommunen müssen Antworten zur Absicherung bereithalten."
Portrait of Martin Hoyer
Senior Partner
Hamburg Office, Zentraleuropa

Seit Beginn des Ukraine-Kriegs befindet sich die Branche allerdings in einer paradoxen Situation: Einerseits gilt es, den Ausbau der erneuerbaren Energien in schwieriger Lage weiter voranzutreiben, um die Abhängigkeit von fossilen Energieträgern sowie Kohle- und Gasimporten zu überwinden. Andererseits hat sich mit der kriegsbedingten allgemeinen Energiekrise die Situation über Nacht schlagartig verändert, denn konventionelle Energieerzeugung gewinnt schlagartig an Bedeutung. Hohe Energiepreise machen Strom aus Kohle & Co. temporär sehr profitabel und bescheren einigen Energieversorgern mitunter Rekordgewinne. Unter dem Strich bleibt es kniffelig und herausfordernd – so oder so: Die Unternehmen kämpfen mit einer massiven Strompreisvolatilität und noch nie da gewesenen Liquiditätsrisiken. Der Grund für Letzteres: Zunehmende Kapitalbindung im Working Capital sowie die Hinterlegung von liquiden Mitteln bei Termingeschäften im Energiehandel kann je nach Marktpreis, Höhe des Handelsvolumens und Art des Geschäfts für Unternehmen zu einem existenziellen Risiko werden.

Liquiditätsengpässe trotz hoher Gewinne

Diese Entwicklung wird sich bei Fortgang der globalen Krisen auf absehbare Zeit auch nicht ändern und weiterhin zu hohen Liquiditätsbelastungen bei Energieunternehmen führen. Stark gestiegene Strompreise haben bei einigen Versorgern, trotz hoher Gewinne, bereits zu Liquiditätslücken geführt, die nur mit staatlicher Hilfe überwunden werden konnten. Insbesondere kommunale Energieversorger stehen unter Druck, denn sie sind von stabilen Erträgen besonders abhängig, etwa um den Umbau der kommunalen Infrastruktur hin zu mehr grünen Angeboten mitzufinanzieren.

Schadet die Krise den Erneuerbaren?

In einer deutlich besseren Situation befinden sich die Erzeuger erneuerbarer Energien, da sie ihren Strom ohne Brennstoffkosten produzieren und damit unabhängig von den Schwankungen der Inputpreise sind. Daran ändert auch die anstehende Zinswende nichts. Dennoch könnte der von der Regierung geforderte schnellere Ausbau alternativer Stromerzeugung ins Stocken geraten, falls die derzeit akute Materialknappheit und die globalen Lieferkettenprobleme weiter anhalten. Dennoch ist eines klar: Erneuerbaren Energien gehört die Zukunft. Der Umbau steht nicht mehr in Frage – sondern nur noch, wie schnell dieser gelingen wird.

"Energieversorger müssen in größter Unsicherheit die Transformationsgeschwindigkeit hochhalten. Das Gelingen der Energiewende entscheidet über die Zukunftsfähigkeit aller Wirtschaftssektoren hierzulande."
Portrait of Adrian Pielken
Senior Partner
Düsseldorf Office, Zentraleuropa

Netzgeschäft: Inflation bremst steigende Renditen aus

Einen Wendepunkt könnte es nun für die Betreiber von Strom- und Gasnetzen geben. Denn die erstmals seit zehn Jahren gestiegenen Zinsen erhöhen auch die regulatorisch garantierten Renditen, weil diese an das Zinsumfeld gekoppelt sind. Der Entlastungseffekt für Betreiber wird allerdings erst nach Ablauf der Regulierungsperioden für Gas (2023) und Strom (2024) einsetzen. Bis dahin wird der Margendruck aufgrund steigender Inflation und höherer Löhne anhalten und die Dynamik der Energiewende womöglich dämpfen. Denn deren Erfolg hängt maßgeblich von der Modernisierung und Weiterentwicklung der Energienetze ab – zu den nächsten Schritten muss beispielsweise die Einbindung der Millionen Elektroautos hierzulande gehören.

Die Aussichten für die Gesamtbranche lassen sich so zusammenfassen: Der Transformationsdruck auf die Geschäftsmodelle steigt und die Prognosefähigkeit über die künftige operative Entwicklung sinkt. Dies könnte (Re-)Finanzierungen künftig zunehmend herausfordernder machen – ohne nachvollziehbaren Dekarbonisierungspfad gegebenenfalls unmöglich. Nicht zuletzt deshalb müssen Versorger die risikoadjustierte Steuerung ihres Geschäfts noch konsequenter vorantreiben und neben Profitabilitätszielen auch Liquiditäts- sowie Finanzierungsaspekte stärker berücksichtigen. Vor dem Hintergrund steigender ESG-Anforderungen (kurz für: Environmental, Social, Governance) seitens der Banken und Investoren ist ein umfassendes Risikomanagement ohnehin unausweichlich.

Krisendossier
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Energiemix wird wichtiger

Viele Energieversorger haben bereits damit begonnen, die gestiegenen Energiekosten an ihre Kunden weiterzugeben. Diese strategische Entscheidung ist eine Gratwanderung, denn sie kann zu einer breiten Abwanderung langjähriger Bestandskunden führen. Vor allem Anbieter mit einem unvorteilhaften Energiemix – hoher Anteil fossiler, geringer Anteil erneuerbarer Erzeugung – können dabei zusätzlich unter Druck geraten. Steigende Strom- und Gaspreise wirken sich aber nicht nur auf die Wechselbereitschaft von Kunden aus, sondern auch auf das Geschäftsmodell von Versorgern. Denn Haushalte und Unternehmen, die ihre Stromerzeugung selbst in die Hand nehmen, fallen als Kunden und damit auch als Umsatzbringer weg.

Die Krux: Versorgungssicherheit und Klimaziele

Größter Unsicherheitsfaktor bleiben die Verwerfungen durch Ukraine-Krieg und eine Verschärfung der ohnehin schon fragilen geopolitischen Lage. Der Wegfall langfristiger Gasbezugsverträge kann für einige Versorger das Aus bedeuten. Die Politik muss geeignete Rahmenbedingungen schaffen, um die Unternehmen zu unterstützen und die Versorgungssicherheit auf breiter Front aufrechtzuerhalten. Gleichzeitig darf Deutschland die Klimaziele nicht aus den Augen verlieren und muss das Erreichen der ambitionierten Vorgaben weiter möglich machen.

Fazit

Der Energiebranche steht vor großen Herausforderungen. Derzeit ist unklar, ob die Ukraine-Krise die deutsche Klimapolitik entscheidend ausbremst oder die grüne Wende unter dem Strich sogar beschleunigt. Aber eines ist sicher: Mehr denn je müssen sich die privaten und öffentlichen Stakeholder auf weitere mögliche Krisenszenarien vorbereiten, Risiken frühestmöglich antizipieren und die komplexe Transformation der Branche im Schulterschluss vorantreiben. Denn nur so können die Herausforderungen erfolgreich bewältigt werden, damit Deutschland eine Chance auf eine nachhaltige Energiewirtschaft hat.

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